Lars Hermanns

Fairview - Schleichender Tod


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dass sein Vorgänger, Chief Rooney, jahrelang keinen Kontakt zu meinem Department haben wollte? Können Sie sich sowas vorstellen?«

      »Nein, Sheriff kann ich nicht.«

      »Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als man mir plötzlich den Besuch des Chiefs von Fairview ankündigte!«

      »Sheriff, bitte seien Sie mir nicht böse … aber mir ist derzeit wirklich nicht nach Smalltalk zumute. Ich weiß Ihre Bemühungen sehr zu schätzen, und unter anderen Umständen, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort werde ich mich gern stundenlang mit Ihnen unterhalten. Doch im Moment möchte ich gern meine eigenen Gedanken sortieren und so schnell wie möglich zu Chief Justice gebracht werden.«

      »Schon in Ordnung, Commissioner. Bitte lehnen Sie sich zurück, wir werden in Kürze in Fairview eintreffen.«

       Municipal Hospital, Fairview, Georgia

      Lois kam wieder zurück in den Wartebereich des Hospitals. Sie wirkte sehr niedergeschlagen, und William wusste, dass er nichts dagegen unternehmen konnte. Vor knapp mehr als zwei Monaten saß er selbst noch bangend vor den Türen zu den OPs des Presbyterian Hospitals / Weill Cornell Medical Centers in Manhattan, nachdem er erfahren hatte, dass seine geliebte Frau während der Weihnachtseinkäufe niedergeschossen worden war. Über zwei Stunden lang hatten er und Gordon Malone gemeinsam mit zwei Officers, die zuerst am Tatort waren, vor den metallenen Türen gewartet und schließlich erfahren, dass man Angela Justice nicht mehr retten konnte. Für William war damals eine Welt zusammengebrochen.

      »Chief Justice«, ergriff plötzlich Lois das Wort, »glauben Sie, dass mein Junge es schaffen wird?«

      William überlegte gründlich, was er ihr auf diese verständliche Frage antworten sollte. Er entschied sich, die Antwort offen zu lassen: »Juan ist ein Kämpfer, Mrs. Lopez.« Er wusste selbst, dass seine Antwort nicht zufriedenstellend für die bangende Mutter gewesen sein dürfte, doch zu mehr wollte er sich nicht hinreißen lassen.

      Lois Lopez war gebürtige Amerikanerin und lebte mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem Latino-Viertel der Stadt, direkt neben der Interstate I-575. Sie war etwas kräftiger gebaut und Mitte vierzig, und sie liebte ihren Sohn Juan von ganzem Herzen. William musste daran denken, wie sie noch vor weniger als vier Stunden miteinander im Home Depot sprachen und nach einem Regal für Williams Büro gesucht hatten. Juan war die Offenherzigkeit seiner Mutter peinlich, doch William erkannte, dass sie einfach nur stolz auf ihren Sohn war und sich freute, dass er dank William nun wieder gern zur Arbeit ging.

      Brenda Lee erschien, ging auf sie beide zu und schloss Lois in die Arme. Sie kannten sich schon, seit Juan im vergangenen Jahr beim Fairview Police Department angefangen hatte. Beide, Brenda Lee und Juan, litten unter dem despotischen Verhalten des vorherigen Chiefs und dessen Freundes Isaac Bedford Collister, und das schweißte die beiden Frauen offensichtlich zusammen.

      Nachdem sich Brenda Lee aus den Armen von Lois befreit hatte, kam sie zu William: »Danke, Chief, dass Sie mich informiert haben.«

      William nahm sie nun ebenfalls kurz tröstend in den Arm, ehe sich alle drei hinsetzten. Wie lange würden sie noch warten müssen?

       Interstate I-575, Cherokee County, Georgia

      »Commissioner, wir sind gleich da! Die nächste Ausfahrt führt uns direkt nach Fairview rein.«

      »Danke, Sheriff. Und bitte verzeihen Sie, dass ich vorhin so barsch zu Ihnen war.«

      O.C. lächelte, ehe er antwortete: »Schon in Ordnung, Commissioner. Ich verstehe Sie sehr gut. Wissen Sie, bei mir ist es einfach nur umgekehrt. Wenn ich Kummer habe, dann plappere ich wie ein Äffchen, um mich davon abzulenken.«

      Gordon blickte von seinem Beifahrersitz aus zu Sheriff O.C. Thomas rüber, dem man wirklich nicht ansehen konnte, ob er gerade gut gelaunt oder nicht vielleicht doch innerlich aufgewühlt war. »Kannten Sie den angeschossenen Jungen gut?«

      »Wir haben uns erst kürzlich durch William kennengelernt. Zuerst im Police Department und dann am Samstag drauf bei mir und meinen Leuten. War immer sehr höflich und aufgeschlossen. Wird bestimmt mal ein richtig guter Cop werden.«

      Sie erreichten die Main Street von Fairview und nahmen direkten Kurs auf das Municipal Hospital. Vor Kreuzungsbereichen und Ampeln schaltete der Sheriff stets seine Sirene zu den Signalleuchten an, um nicht halten zu müssen. Und dann kam bereits das Hospital in Sicht.

       Municipal Hospital, Fairview, Georgia

      Es war beinah 22 Uhr, als William seinen Freund und Mentor zusammen mit Sheriff Thomas ins Hospital kommen sah. Er stand auf und ging den beiden Männern entgegen. Gordon schloss seinen einstigen Schützling väterlich in die Arme, und kurz darauf tat es O.C. Thomas ihm gleich.

      »Gibt es schon Neuigkeiten von den Ärzten?«, fragte O.C. an William gewandt.

      »Nein, noch nicht.«

      Die drei Männer setzten sich zu den Frauen, und William stellte Gordon, Lois und Brenda Lee einander vor.

      Sie saßen noch eine ganze Weile zusammen. Hin und wieder stand einer auf und ging ein paar Schritte. Lois erreichte ihren Mann zwischenzeitlich zu Hause und erzählte ihm, was passiert war. Er war nun unterwegs und sollte jeden Moment eintreffen.

      Kurz vor 23 Uhr traf José Lopez im Hospital ein und nahm seine Frau in den Arm. Brenda Lee gesellte sich zu ihnen und stellte ihm später die anderen Anwesenden vor.

      »Chief Justice? Was ist passiert?«, fragte er verzweifelt.

      »Juan hat einen Tankstellenräuber auf frischer Tat erwischt und gestellt. Er schoss auf den Räuber, doch dieser konnte noch zurückschießen.«

      José Lopez nickte nur und hielt noch immer seine Frau in den Armen. »Wird er durchkommen?«

      »Ich hoffe, dass uns die Ärzte diese Frage bald beantworten können, Sir.«

       * * *

      Es war beinah Mitternacht, als endlich ein Arzt aus dem OP-Bereich zu ihnen kam.

      »Chief Justice?«

      William stand auf und wandte sich zu ihm: »Ich bin Chief Justice.«

      Auch die anderen standen nun alle auf und kamen erwartungsvoll zu ihnen.

      »Gehören Sie alle zur Familie?«, fragte der Arzt, als er die Versammlung sah.

      »Eltern und Kollegen«, antwortete William.

      »Wie geht es unserem Jungen?«, wollte Lois verzweifelt wissen.

      »Nun«, begann der Arzt, »ich bin Dr. Asclepius. Ich habe Ihren Sohn bis eben operiert. Die Kugel hat eine Rippe durchschlagen und ist in den linken Lungenflügel eingedrungen.«

      Lois hielt den Atem an, schlug sich ihre rechte Hand vor den Mund und fing wieder an zu weinen. José nahm sie in den Arm und fragte: »Lebt er noch?«

      »Ja, er lebt noch. Allerdings wird es sehr lange dauern, ehe er wieder Baseball spielen kann. Wir konnten die Kugel entfernen, doch hatten wir einigen Kampf mit Fetzen von seiner Kleidung sowie mit Knochensplittern. Es hat sehr lange gedauert, alles aus der Wunde zu entfernen, damit sich nichts entzünden kann. Durch den traumatischen Pneumothorax bedingt, mussten wir bei Ihrem Sohn eine Drainage legen. Ferner wird es eine ganze Weile dauern, bis sich sein Lungenflügel, der durch den Einschuss kollabiert ist, wieder regeneriert und entfaltet.«

      »Doktor«, fragte William, »wird er es schaffen?«

      »Ich denke schon, Chief. Wir haben ihn jetzt auf die Intensivstation gebracht, wo er auch eine ganze Weile bleiben wird. Glücklicherweise hat der Schuss nicht das Herz erwischt. Er hatte viel Glück! Und er wird noch mehr Glück nötig haben. Ich denke, innerhalb der nächsten 48 Stunden werden wir wissen, ob er über den Berg ist.«

      »Dürfen wir ihn sehen?«, fragte Lois schluchzend.

      »Gern, aber nur kurz und nur durch