Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


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Mannes wenig Spektakuläres. Selbst ein Notendurchschnitt von 1,6 konnte den ehemaligen Abiturienten nicht zu einem Studium bewegen. Weder die Aussicht auf das stattliche Einkommen eines Akademikers, noch irgendwelche Titel, die damit verbunden gewesen wären, konnten ihn davon abhalten eine Ausbildung als Krankenpfleger zu absolvieren.

      Seine letzte Beziehung fiel den unregelmäßigen Arbeitszeiten zum Opfer, aber auch das nahm er in Kauf. Er war dort, wo er sein wollte und am meisten gebraucht wurde. Dort wo Menschen seine Hilfe und Fürsorge benötigten. So wie auch an jenem Abend.

      Bereits seit zwei Stunden hielt er die abgemagerte Hand der alten Dame.

      Was hatte die Krankheit nur aus dieser Frau gemacht? Noch vor ein paar Monaten stand die 67-jährige mit beiden Beinen im Leben. Mit ihren 1,72m und 69kg zählte sie zu den eher großen Frauen. Es gab keine weißen Haare, die man hätte färben müssen und auch ihr fast makelloses Gebiss ließen sie immer 10 Jahre jünger erscheinen, als sie tatsächlich war.

      Mit Ausnahme ihrer engsten Freunde, zu denen auch Rene und seine Familie gehörten, wusste kaum jemand etwas über die schweren Zeiten, die sie hinter sich hatte. Ihre eigenen Eltern hatte sie nie kennengelernt. Die ersten 17 Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Hamburg in einem kirchlichen Waisenhaus, ohne jemals die Umstände dafür zu erfahren. Im Alter von 16 Jahren begann sie eine Ausbildung zur Friseurin, wo sie sich in den Sohn ihrer Chefin verliebte. Zwei Wochen nach ihrem 18. Geburtstag stand sie bereits vor dem Traualtar. Das junge Paar übernahm bereits nach 4 Jahren den elterlichen Betrieb und eröffnete innerhalb der nächsten sechs Jahre zwei weitere Salons. Die Geschäfte liefen gut.

      Man bekam gesellschaftliche Anerkennung, in der sich ihr Mann sonnte und sie selbst immer mehr zum Vorzeigeobjekt für ihn wurde. Nach 23 Jahren und fünf erfolglosen Versuchen ihren Mann vom Alkohol wegzubekommen, stand sie vor den Scherben ihrer Ehe. All das konnte dieser Frau die Lust am Leben nicht nehmen. Mit neuen Hoffnungen und einer großen Portion Lebensmut im Gepäck verließ sie nur wenige Tage nach der Scheidung Hamburg und siedelte nach Berlin um, wo sie Rene und seine Familie kennenlernte.

      Inzwischen auf 48kg abgemagert war selbst das lebensfrohe Leuchten aus ihren Augen verschwunden. Die Haut war faltig, das Gesicht eingefallen und der bevorstehende Tod zeigte seine hässlichste Fratze. Rene wusste, dass sie bereit war, vor ihren Schöpfer zu treten. Sie hatte es ihm in den letzten fünf Tagen (welche sie nun auf seiner Station verbrachte) mehr als einmal gesagt. Doch war er bereit sie schon loszulassen?

      In dieser Nacht saß er auf einem Stuhl neben dem Bett und starrte auf die elektronischen Anzeigen, die jede Veränderung des Gesundheitszustandes der Patientin sofort protokollierten.

      Irgendwann in dieser Nacht, das wusste er, würde es passieren und der immer wiederkehrende Piepton, der jeden einzelnen Herzschlag darstellte, würde in einen lang anhaltenden Pfeifton übergehen. Dann hätte sie es endlich geschafft. Nach einem halben Jahr zwischen Schmerz und Hoffnung sowie endlosen Untersuchungen und den verschiedensten Behandlungen würde sie hier in diesem Bett ihren Frieden finden.

      Acht Sekunden später würde dann auch das Gehirn seine Tätigkeit endgültig einstellen. Neuesten Erkenntnissen zur Folge könnte dies die Zeitspanne sein, die die Seele braucht, um den Körper zu verlassen. Ob sie danach tatsächlich körperlos weiter existieren könnte, darüber spekulierte die Menschheit seit Anbeginn des Seins.

      Für Rene stand auf jeden Fall fest, dass er mindestens diese acht Sekunden warten würde, bevor er die nächsten erforderlichen Schritte unternähme. Auch in diesen letzten Momenten wollte er einfach nur bei ihr sein.

      Erst nach Ablauf dieser Frist würde er die Geräte ausschalten und Dr. Seehof rufen, der den Tod offiziell bestätigen musste. Es war immer die gleiche Prozedur. Und doch war diesmal alles anders als sonst. Diesmal lag eine Frau in diesem Bett, die ihm in der Vergangenheit wesentlich näher gestanden hatte als irgendeine Patientin zuvor.

      Schon seit Wochen musste er sich bemühen, seine Tränen vor ihr zu verbergen.

      Längst hatte er aufgehört mitzuzählen wie viele Menschen, die vor ihr in diesem Bett lagen, er schon betreut hatte, wie vielen Betroffenen er schon Trost zugesprochen hatte, wie viele Angehörige auf demselben Stuhl gesessen hatten wie er in dieser Nacht.

      Jeder von ihnen fühlte sich der Situation hilflos ausgeliefert. Jedes Mal glaubte er zu verstehen, was in diesen Menschen vorging. Jedes Mal irrte er sich in diesem Punkt.

      Welche Qualen man tatsächlich auf diesem Stuhl durchlebte, das sollte er erst jetzt wirklich erfahren.

      Zum ersten Mal fühlte er sich nicht als Krankenpfleger, sondern als Angehöriger. Diesmal war er derjenige, der den Trost des Pflegepersonals benötigte. Denn anders als alle Patienten vor ihr kannte er diese Frau schon fast sein ganzes Leben lang.

      Seine eigene Wohnung hatte er seit vier Tagen nicht mehr gesehen und den wenigen Schlaf, den er benötigte, fand er sitzend auf einem Stuhl in diesem Raum, der nur selten von Tageslicht durchflutet wurde. Für die meisten Patienten war diese schwache Beleuchtung genau das, was sie in diesem Zustand brauchten. Nur ganz wenige von ihnen baten darum, die Jalousie beiseitezuschieben, weil sie wenigstens noch ein letztes Mal das Sonnenlicht und den Himmel sehen wollten.

      Die letzten Wünsche vieler, die in diesem Bett starben, gingen ihm durch den Kopf. Fast jeder von ihnen hatte irgendeinen anderen Wunsch gehabt. Doch diese Frau hatte nicht einen Einzigen geäußert. Es reichte ihr völlig aus, sich von ihren Lieben verabschiedet zu haben.

      Zeitweilig glaubte Rene, dass ihn das monotone Geräusch des kleinen Lautsprechers, der die Herztöne wiedergab, noch in den Wahnsinn treiben würde. Und doch war er für jeden einzelnen Ton, den er seit nunmehr fast fünf Tagen hörte, dankbar. Es war ein ständiger Zwiespalt, in dem er sich befand. Obwohl er in einem Moment noch daran glaubte, dass jede Sekunde des Lebens das wohl kostbarste Geschenk der Welt war, wusste er, dass sie sofort wieder leiden würde, wenn die Wirkung des Morphiums nachließe. In diesen Momenten betete er um ihre Erlösung. Inzwischen hatten die meisten inneren Organe fast vollständig versagt. Maschinen waren es, die ihr Leben künstlich verlängerten. Ohne sie wäre diese Frau mit Gewissheit schon tot.

      In solchen Augenblicken stellte sich Rene immer wieder die gleiche Frage: Waren diese Maschinen wirklich in der Lage das Leben zu verlängern? Oder verlängerten sie möglicherweise nur das Sterben, in der Hoffnung, dass im letzten Moment doch noch ein medizinisches Wunder geschieht? Der große Durchbruch im Kampf gegen den Krebs!

      Die unheimliche Ruhe im Raum wurde lediglich durch das Piepen des Herzmonitors gestört. Die gleichmäßige Frequenz erinnerte ihn an ein Metronom, wenn es scheinbar unaufhörlich tickt und Musikern dabei hilft, den Takt zu halten, bis es irgendwann schlagartig stehen bleibt.

      Die Frau, die vor ihm im Bett lag, besaß ein solches Metronom und er wusste noch genau, wie fasziniert er als Kind davon war. Er selbst durfte es damals aus dem Karton nehmen, in dem es transportiert worden war.

      Er dachte an den großen schweren Umzugskarton, den er als Junge, der gerade mal die dritte Klasse besuchte, niemals alleine hätte bewegen können. Mit den ungeschickten Händen eines Kindes hatte er das tickende Monstrum, nachdem er es aufziehen durfte, auf einen kleinen Tisch gestellt und mit großen Augen beobachtet, wie das Pendel hin und her schwang.

      Und nun, viele Jahre später, lag seine Besitzerin im Sterben. Eine Tatsache, die kein Mensch und keine Medizin auf der Welt, in diesem Stadium der Krankheit, noch hätte ändern können.

      Rene schloss seine Augen und drückte die Hand der Patientin etwas fester.

      Vor seinem geistigen Auge erwachten Erinnerungen aus seiner Kindheit. Die Bilder der Vergangenheit wurden wieder lebendig.

      Da sah er sie wieder vor sich, 25 Jahre jünger und mit der Kraft und dem Lebensmut einer damals gerade frisch geschiedenen Frau, die anscheinend vorhatte die ganze Welt aus den Angeln zu heben. Schon seit den Morgenstunden beobachtete Rene das Treiben vor dem Fenster seines Kinderzimmers. Einem uralten Umzugswagen waren bereits kurz nach Sonnenaufgang zwei Männer entstiegen, die nun seit einigen Stunden Möbel und Kartons durch die Gegend trugen. Im Rückblick machten sie den Eindruck, dass man sie gerade in einem Obdachlosenheim