Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


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diesem Stadium dauert es höchstens noch 24 Stunden. Ich gehe davon aus, dass …“ Plötzlich unterbrach Rene mitten im Satz. „Einen Moment bitte ich bin gleich wieder bei Ihnen. Wenn sie mich brauchen, dann klingeln sie einfach nach mir.“ Er legte dem Vater noch einmal tröstend die Hand auf die Schulter, verließ das Krankenzimmer und ging in den Aufenthaltsraum. Sein Puls raste, doch er wusste nicht warum.

      Was war es, das in ihm diese plötzliche Unruhe erzeugte. Es musste etwas mit dem zu tun haben, was er mit dem Vater der Patientin gesprochen hatte. Er versuchte alles noch einmal zu ordnen. ‚heute bereits der vierte Tag – höchstens noch 24 Stunden‘

      Da waren sie: Julias Zahlen! Er schloss er die Augen. Die Zahlenreihe von 0 – 9 raste wie ein Eilzug immer wieder an ihm vorbei. Doch was wollten ihm diese Zahlen sagen? Krampfhaft versuchte er sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Also ging er zurück ins Krankenzimmer, wo der Vater immer noch wie in Trance auf die Anzeigen des Monitors starrte. Rene stellte sich hinter ihm. „Wollen Sie sich nicht selbst etwas Schlaf gönnen?“, fragte er fast im Flüsterton. „Wenn sie nicht nach Hause wollen, dann könnte ich ihnen eine Liege ins Schwesternzimmer stellen lassen. Wir haben so etwas schon öfter gemacht.“ Langsam drehte sich der Mann zu Rene um. „Ich kann sie doch nicht alleine lassen. Was ist, wenn sie aufwacht und….“, Rene unterbrach ihn. „Sobald sich etwas ändert, rufe ich sie.“ Er sah dem Mann an, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Trotzdem war er nicht bereit das Zimmer zu verlassen, wofür Rene das größte Verständnis hatte. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben dem Mann, der kurze Zeit später einschlief. Leise stand Rene auf und ging zurück in den Aufenthaltsraum, wo inzwischen auch Claudia eingetroffen war. „Nach einem kurzen „Hallo“ ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Irgendwie musste es doch möglich sein, sich abzulenken. Claudia stellte ihm eine Tasse Kaffee hin und Rene griff sich eine Illustrierte, die auf dem Tisch lag. Lustlos blätterte er durch die Seiten, bis sein Blick auf eine fast komplett ausgefüllte Runde Sudoku fiel. „Zahlen“ Wohin er auch sah, immer wieder sah er Zahlen. Auf dem Herzmonitor, an den Zimmertüren, auf der Uhr und nun wieder. Rene rieb sich die Augen. Hätte er es nicht besser gewusst, dann hätte er schwören können, dass etwas mit seiner Sehkraft nicht in Ordnung war. Alles war plötzlich verschwommen. Trotzdem konnte er seinen Blick nicht abwenden. Wie aus einem dunklen Nebel trat eine einzige Ziffer immer wieder heraus. Es war die magische Zahl Fünf.

      – Fünf Tage!!! –, schoss es ihm durch den Kopf.

      War das ein Zufall? Rene versuchte sich zu erinnern.

      Scheinbar waren es vom Zeitpunkt, in dem die Ärzte erklärten nichts mehr tun zu können, bis zum Eintreffen des Todes immer fünf Tage.

      Wahrscheinlich spielte ihm seine Erinnerung nur einen Streich. Doch irgendwie konnte er die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er musste sich unbedingt Gewissheit verschaffen. Also verließ er den Raum, um seinen Freund Andy anzurufen. Nach einem kurzen „Hallo“ kam Rene sofort zur Sache. „Ich habe nur eine kurze Frage. Wie lange lag deine Großmutter damals auf meiner Station? Du hast es neulich zwar erwähnt, aber ich bin mir unsicher, dass ich es noch richtig in Erinnerung habe.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Fünf Tage, aber warum fragst du danach?“ „Ich wollte einfach nur wissen, wie viel Tassen Kaffee du mir von damals noch schuldest.“, log Rene seinen Freund kurzerhand an. „Wir sehen uns am Donnerstag. Mach‘s gut!“ Ohne eine weitere Erklärung abzugeben, beendete Rene das Gespräch und klappte sein Handy zu.

      Anscheinend gab es tatsächlich ein Muster, nachdem die Menschen auf seiner Station verstarben und Rene war entschlossen der Sache auf den Grund zu gehen. Zweifellos brauche er noch mehr Informationen.

      Irgendwo im Krankenhaus müssten Unterlagen existieren, die seinen Verdacht bestätigen oder ihn als Hirngespinst abtun würden. Auf der Station befanden sie sich nicht mehr, denn dafür hätten die wenigen Hängeregister nicht ausgereicht. Somit kam nur ein einziger Ort infrage, wo er danach suchen könnte. Das Aktenarchiv im Keller.

      Kapitel 3

      Nachdem er seine Praktikantin mit klaren Anweisungen zurückgelassen hatte, machte sich Rene nun auf den Weg in den Keller, wo alle Patientenakten lagerten. Auf dem Gang begegnete er dem Chef der Onkologie, der ebenfalls auf den Fahrstuhl wartete und mit einem kurzen, uninteressierten Kopfnicken grüßte.

       Professor Dr. Meinberg war der einzige Arzt im gesamten Krankenhaus, der nur in den seltensten Fällen einen Kittel trug. Bestenfalls wenn er Vertreter des Krankenhauskonzerns oder irgendeiner Behörde durch seine Abteilung führen musste, ließ er sich dazu hinreißen. Rene hatte nie zuvor einen Menschen kennengelernt, der so deutlich zum Ausdruck brachte, wie sehr er seinen Beruf eigentlich hasste.

      Den direkten Kontakt zu Patienten mied Meinberg so gut er konnte. Darüber gab es in Kollegenkreisen die verschiedensten Spekulationen. Während einige wenige zu wissen glaubten, dass er selbst einen nahestehenden Angehörigen durch Krebs verloren hatte und seitdem den Anblick nicht mehr verkraften würde, hielt ihn der größte Teil der Kollegen einfach für einen bösartigen Menschen. Hinter vorgehaltener Hand wurde sogar gemunkelt, dass er nur zum Leiter der Onkologie ernannt worden war, weil Menschenleben in seinen Augen nichts wert waren. Sätze wie: „Wetten, dass der sein Auto besser behandelt als seine Patienten?“ fielen mehr als einmal, auch wenn nie einer der Kollegen im Krankenhaus so etwas öffentlich laut aussprechen würde.

      Meinberg hatte zu seinem Beruf eine Einstellung, die einem modernen Krankenhaus, bei dem wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen, mit Gewissheit sehr gelegen kam.

      Rein äußerlich war er mit seinen 1,92m groß und stattlich. Mit seinem leichten Bauchansatz und der perfekt sitzenden Frisur erweckte dieser Mann den Eindruck, als sei er die Gutmütigkeit in Person. Die Leitung der Onkologie übernahm der gebürtige Frankfurter vor zwei Jahren. Schnell stellte sich heraus, dass hinter dieser Fassade ein eiskalter Mensch steckte. Als Mediziner, in seinem Fachbereich mit Sicherheit einer der besten Experten in Deutschland, ließ er jeden Mitarbeiter und Patienten wissen, dass sie für ihn nicht mehr waren als notwendige Bestandteile seiner Arbeit. Über sein Privatleben, sowie seine persönliche Entwicklung wurde nie etwas bekannt und so sollte es auch bleiben.

      Aufgewachsen als Sohn eines Professors hatte er nie wirklich eine Wahl was er eines Tages aus seinem Leben machen würde. Er hatte ausschließlich Privatschulen besucht, die seine Eltern bereits vor seiner Geburt sorgfältig auswählten. Kontakt zu Kindern aus der Nachbarschaft gab es kaum. Zur körperlichen Ertüchtigung, wie es sein Vater damals nannte, wurde er im Alter von 9 Jahren in einem Fechtclub angemeldet. Später folgte noch ein Tennisverein so wie die Mitgliedschaft im Golfclub seines Vaters.

      Nur ein einziges Mal versuchte er seinen Eltern mitzuteilen, worin er seinen Lebensinhalt sehe. Die Haushälterin hatte soeben das Hauptgericht serviert, als sich der 16-jährige Meinberg vorsichtig zu Wort meldete. „Könnt ihr mich nicht in einen Fußballverein anmelden? Ich möchte nicht mehr fechten.“ Der Vater legte sein Besteck auf den Tellerrand, tupfte sich behutsam den Mundwinkel ab und faltete die Hände wie zu einem Gebet, während die Mutter sich mit gesengtem Blick ihrem Essen widmete. Im Hause Meinberg gab es nur einen Menschen, der Regeln aufstellte, die dann unumstößlich eingehalten wurden.

      „Fußball, mein lieber Sohn ist etwas für dumme Menschen. Sportarten wie diese wurden nur erfunden, um uns Intellektuelle zu amüsieren.“ „Aber …“, versuchte der junge Meinberg seinen Vater zu unterbrechen, als die Mutter ihn auch schon daran hinderte. „Du weißt doch, was Papa immer sagt: Wir sind nicht wie die Menschen, die du draußen auf irgendwelchen Plakaten siehst.“ Der Vater blickte seinen Sohn streng an „Neulich war es die Idee eines Tages als einfacher Mechaniker ein paar Groschen zu verdienen und heute ist es Fußball. Wir sind in dritter Generation Mediziner und du wirst diese Linie weiterführen. Also kein Fußball und keine Handwerkerausbildung. Ende der Diskussion!“ Als ob dieses Gespräch nie stattgefunden hätte, aß der Vater genüsslich weiter. ‚Wenn ich nicht mit mechanischen Maschinen arbeiten darf, dann muss ich lernen biologische Maschinen wie welche zu behandeln.‘, dachte der junge Meinberg bei sich, während er lustlos in seinem Essen herumstocherte. Über die Berufswahl wurde im Hause Meinberg nie mehr gesprochen.