Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


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Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass für einen ganz kurzen Moment tatsächlich nichts mehr zu hören gewesen war, dass Helgas sanfte Musik nie wieder erklingen würde.

      Die kurze Stille mit dem anschließenden langen, hellen Ton hatte Rene wieder in die Realität zurückgeholt.

      Der Herzmonitor zeigte genau 23.43 Uhr an, als der Pfeifton einsetzte. Rene musste nicht zum Bildschirm sehen. Er wusste, dass aus den mehr oder weniger regelmäßigen Zacken inzwischen eine einzige durchgezogene Linie geworden war. Instinktiv begann er leise zu zählen. „einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … … … … achtundzwanzig“. Er hielt ihre Hand noch ein paar Sekunden länger fest, um ganz sicherzugehen, die acht Sekunden nicht zu unterschreiten.

      Anders als bei einigen seiner Patienten musste er ihre Augen nicht extra schließen, denn unter dem Einfluss des Morphiums befand sie sich bereits schon den ganzen Tag über in einer Art Schlafzustand.

      In den zurückliegenden fünf Tagen hatten sie sich alles gesagt, was zu sagen war. Seine Mutter war noch am Abend zuvor am Sterbebett ihrer besten Freundin gewesen und Rene hatte Helga versprechen müssen, sich um sie zu kümmern. Julia, die seit vier Jahren für ein Computerunternehmen in Kanada tätig war, hatte mehrfach um Urlaub gebeten, aber dieser wurde ihr jedes Mal verwehrt. Rene redete stundenlang mit ihr am Telefon, um sie davon abzubringen, trotzdem nach Deutschland zu fliegen, um der Familie beizustehen. Eines, so wusste er, würde er ihr nie ausreden können.: Helga die letzte Ehre zu erweisen und zur Beerdigung zu kommen. Bereits damals, nach dem Tod des Vaters der beiden und auch Jahre später noch, hatte Helga immer wieder betont, dass dies etwas sei, das man für einen Verstorbenen tun muss. „Und wenn danach die Hölle zufriert“, waren zu jener Zeit ihre Worte.

      Rene klingelte nach Dr. Seehof. Nun konnte er nichts mehr tun, außer seine Mutter und seine Schwester zu informieren.

      Beide nahmen es sehr gefasst auf. Das Einzige, was seine Mutter herausbrachte, war: „Dieser verdammte Krebs. Wann findet man endlich ein Mittel dagegen? Wie viele Menschen müssen noch sterben?“

      „Ich weiß es nicht“, waren die einzigen Worte, die er darauf erwidern konnte. Er fühlte sich leer und ausgebrannt.

      „Soll dich jemand vom Krankenhaus abholen? Wir könnten uns zusammensetzen und reden. Ich merke genau, wie sehr dich die letzten Tage mitgenommen haben.“

      Rene lehnte ab. Er wollte nur noch in sein Bett. „Wir reden morgen weiter“, versprach er seiner Mutter.

      „Fahr vorsichtig. Ich möchte nicht noch einen Menschen verlieren.“ Traurig sah sie in den Telefonhörer, unfähig etwas für ihren Sohn tun zu können.

      Langsam klappte er sein Handy zu und stellte seine Kaffeetasse auf die Abstellfläche im Schwesternzimmer.

      Claudia, die etwas rundlich wirkende Praktikantin, die anscheinend ein Auge auf Rene geworfen hatte, drückte im Vorbeigehen seine Hand. Mehr konnte auch sie in diesem Moment nicht tun. Rene war ohnehin nicht ansprechbar.

      Er nahm seine dicke Winterjacke vom Haken und verließ ohne sich umzuziehen das Krankenhaus.

      Vorbei am Sterbezimmer von Helga, wo Dr. Seehof gerade die offizielle Todeszeit zu Protokoll gab und Rene mit einem traurigen Blick verabschiedete.

      Kapitel 2

      Rene saß mit Andy gerade vor dem Computer in dessen Wohnung, wo sich die beiden Freunde wie an jedem Donnerstag mit einem Onlinespiel beschäftigten.

      Rene hatte soeben von Helgas Tod berichtet und Andy sah ihn fragend an. Er wusste was Helga für Rene und seine Familie bedeutete und konnte es kaum glauben, dass diese taffe Frau nun tot sein soll. „Du musst mir mal bitte etwas erklären“, begann er schließlich ein Gespräch. „Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass es heute viel mehr Krebskranke gibt als noch zu unserer Kindheit. Welche Erklärung hast du als Halbmediziner dafür?“

      Rene ließ die Frage einen Moment auf sich wirken, bevor darauf einging. Er war inzwischen schon seit zwölf Jahren als Krankenpfleger tätig und konnte diese Frage nicht so einfach ignorieren. Er selbst hatte sie schon sehr oft im Kollegenkreis erörtert, aber nie eine wirklich befriedigende Antwort erhalten.

      Natürlich entwickelte sich die Medizin immer weiter und auch die Methoden zur Früherkennung des Krebses waren im Laufe der Jahre wesentlich besser und genauer geworden. Woran also mochte es liegen, dass die Anzahl der nachgewiesenen Krebstoten prozentual zur Weltbevölkerung anscheinend stärker anstieg? Tatsächlich könnten Ärzte in der Vergangenheit oftmals fehlerhafte Totenscheine ausgestellt haben, ohne die eigentliche Ursache des Ablebens richtig zu erkennen. Lag es vielleicht daran, dass sie nicht in der Lage waren, eine ordentliche und somit korrekte Diagnose zu erstellen?

      Irgendwie machte diese Erklärung, die auch er immer wieder von sogenannten Experten bekam, aber keinen Sinn.

      Schließlich soll es Hippokrates selbst gewesen sein, der die Bezeichnung „Krebs“ erstmals benutzte, als er bei der Behandlung eines Brustgeschwürs die Ähnlichkeit mit den Beinen eines Krustentieres entdeckte. Wenn also der berühmteste Arzt des Altertums, ca. 400 Jahre vor Christus, schon in der Lage war, diese Krankheit zu diagnostizieren, dann sollte es den Ärzten des 19. oder gar des 20. Jahrhunderts auch möglich gewesen sein.

      Nein, an mangelnder Früherkennung konnte es nicht liegen!

      Für Rene stand fest, dass die Häufigkeit dieser heimtückischsten aller Krankheiten tatsächlich stetig anstieg. Doch wo waren die Ursachen zu suchen?

      Umweltschützer gaben der zunehmenden Belastung durch den Nah- und Fernverkehr die Schuld, wobei Benzol tatsächlich oft im Zusammenhang mit der Leukämie genannt wurde. Aber auch hier brachte der reduzierte durchschnittliche Kraftstoffverbrauch bei Pkws und der somit verminderte Einsatz von Benzol keine erkennbare Entspannung.

      Wenn man heutzutage die Zeitung aufschlägt, dann werden fast täglich neue Stoffe als Krebserreger bekannt gegeben. Zwangsläufig fragt man sich jedoch, wie die Menschheit den Umgang mit diesen Stoffen sowie deren Verzehr früher überlebte? Heute meiden wir sie und sterben trotzdem an Krebs. Früher gehörte der Umgang damit zum Alltag und es starben offensichtlich weniger Menschen daran.

      An diesem Abend wurde für die beiden Freunde das Spielen am Computer zur Nebensache und irgendwann schalteten sie das Gerät einfach ab. Sie diskutierten die ganze Nacht hindurch über den Krebs, seine möglichen Ursachen und Folgen, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu gelangen, das ihnen plausibel erschien.

      Für Rene waren Gespräche wie dieses eine Möglichkeit sich auf die bevorstehende Beerdigung am nächsten Morgen vorzubereiten und sich noch einmal mit Helgas Tod auseinanderzusetzen. In Andy fand Rene zudem noch einen Gesprächspartner, der seine momentane Situation nur zu gut nachvollziehen konnte. Auch er hatte vor einiger Zeit fast eine komplette Woche auf der Station von Rene verbracht, als seine Großmutter im Sterben lag. Immer wieder musste Rene ihn damals auffordern sich etwas Schlaf zu gönnen, weil es nichts mehr gab, was man hätte tun können. „Danke, dass du damals deine Schichten getauscht hast, um mir und meiner Familie in den schwersten fünf Tagen unseres Lebens beizustehen.“, waren die letzten Worte, die Rene an diesem Abend von seinem Freund hörte.

      Andy hatte ein Thema angesprochen, das für Rene inzwischen zum beruflichen Alltag gehören sollte. Die meisten Ärzte und Pfleger, mit denen er es zu tun hatte, nahmen vieles einfach hin, ohne sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen. Doch zu denen gehörte er mit Gewissheit nicht. Mit diesen Gedanken schlief Rene am Abend ein und erwachte mit ihnen am nächsten Morgen. Doch zunächst galt es von einer guten Freundin Abschied zu nehmen.

      Die Beisetzung begann pünktlich um neun Uhr und fand im relativ kleinen Kreis statt. Rene, seine Mutter und Julia waren die ältesten Freunde der Verstorbenen, von der man sich an diesem Tag verabschiedete. Der Rest der Trauergäste bestand aus ehemaligen Arbeitskollegen und -kolleginnen sowie ein paar Leuten, mit denen Helga ab und zu musiziert hatte.

      Zu gerne hätte Rene ihr die Freude bereitet und das Klavierspiel von ihr erlernt, doch sämtliche Versuche, die Helga diesbezüglich unternommen