Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


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in den Vormittagsstunden schellte es an der Tür. Renes Herz schlug schneller.

      ‚Sollte Papa doch früher als erwartet nach Hause gekommen sein?’ Schließlich hatte er versprochen die Kinder an diesem Tag ins Bett zu bringen und die Familie erwartete ihn erst am Abend.

      Neugierig folgte Rene seiner Mutter zur Wohnungstür. Im Treppenhaus stand jedoch nicht sein Vater, sondern die neue Nachbarin. Die damals noch fremde Frau trug eine viel zu große blaue Latzhose und fragte, ob Renes Mutter etwas dagegen hätte, die Wohnungstür einen Moment geöffnet zu halten, damit ihre Helfer auf dem kleinen Treppenabsatz ein Klavier wenden könnten.

      Rene stand hinter seiner Mutter und sah die merkwürdig gekleidete Frau mit großen Kinderaugen an. Es war das erste Mal, dass er eine Frau in Männerkleidung sah. Ein Bild, das für ihn damals etwas Unnatürliches hatte. Schließlich trug seine Mutter selbst ausschließlich Kleider und auch die Mütter seiner Freunde kleideten sich zu jener Zeit ausnehmend weiblich.

      Bereits in diesem ersten Augenblick erkannte er, dass es sich bei dieser Frau um einen ganz besonderen Menschen handelte. Auch seine Mutter musste es damals so empfunden haben, weshalb sie die neue Nachbarin kurzfristig zum Abendessen einlud. Sein Vater, der damals als Fernfahrer tätig war, hatte erst kurz zuvor angerufen, um seiner Frau mitzuteilen, dass er an diesem Abend nicht nach Hause käme, weil er wieder einmal im Stau stecke und die Nacht irgendwo in Frankreich verbringen würde.

      Wie schon so oft, wenn die beiden telefonierten, schimpfte sie am Telefon und verfluchte den Job ihres Mannes. Rene, der die ganze Zeit am Fenster des Kinderzimmers verbrachte, bekam davon jedoch nichts mit.

      „Hätte ich doch bloß niemals einen Fernfahrer geheiratet“, murmelte sie auf dem Weg zur Wohnungstür so leise, dass ihr Sohn es nicht hören konnte.

      Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie für vier statt drei Personen gekocht und sich auf einen Abend im Kreise ihrer Familie gefreut hatte. Dass durch diesen Umstand eine großzügige Portion des Abendessens für die Frau in der frechen Kleidung abfiel, war somit reiner Zufall, ein Zufall, der Renes Leben sowie das seiner Familie später noch maßgeblich beeinflussen sollte.

      Punkt 19.00 Uhr stand die Fremde mit der Kurzhaarfrisur auch tatsächlich vor der Tür, immer noch in der Latzhose, aber mit einem Blumenstrauß und zwei Tafeln Schokolade in den Händen, eine für Renes drei Jahre jüngere Schwester Julia und eine für Rene. Um die Taille hatte sie inzwischen einen Gürtel gelegt, sodass sie nicht mehr ganz so unweiblich wirkte wie am Vormittag.

      „Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug, aber meine restlichen Kleider sind noch irgendwo in den Kartons und die beiden Idioten, die man mir schickte, haben es geschafft, alles durcheinander in die Wohnung zu stellen, natürlich mit der Schrift nach unten.“

      „Männer!“, sagte Renes Mutter damals, während sie die linke Augenbraue hochzog, eine Geste, die im Allgemeinen nichts Gutes verhieß. „Man kann nicht mit ihnen leben, aber auch nicht ohne sie. Ich halte mir auch so ein Exemplar. Also weiß ich, wovon ich rede.“

      „Oh! Sie Ärmste“, erwiderte die Besucherin. „Ich habe meinen erst kürzlich dorthin zurückgeschickt, wo er herkam.“ Lachend betraten beide die kleine Essecke zwischen Küche und Wohnzimmer, die gerade mal Platz für einen Tisch und vier Stühle bot.

      Es gab Rinderrouladen mit Kartoffeln und Rotkohl, das Leibgericht seines Vaters. Die beiden Frauen unterhielten sich während des Essens angeregt miteinander, wobei es vorrangig die Fremde war, die mit ihrer Art Geschichten zu erzählen Menschen verzaubern konnte. Bereits nach ein paar Minuten am Tisch nannten sich die beiden Damen beim Vornamen und stießen mit einem Glas Wein auf das ‚Du’ an.

      Rene erinnerte sich, dass er im Laufe des Abends einmal eine Frage stellen wollte, dabei jedoch ins Stottern kam, weil er ihren Nachnamen nicht kannte.

      „Frau … … äh … Na … Sie … ich meine… …“

      Just in diesem Augenblick unterbrach sie ihn. „Sage einfach Helga zu mir. Ich hasse es, wenn man mich mit dem Nachnamen anredet, denn den habe ich ohnehin nie gemocht.“ Dabei lächelte sie verständnisvoll. Rene stellte zögerlich die Frage, die ihm auf der Seele lag, und Helga beantwortete sie sofort. Trotz seines Alters von nur neun Jahren gab ihm Helga das Gefühl kein Kind zu sein, sondern behandelte ihn wie einen Erwachsenen. Seine Mutter merkte, wie stolz es Rene machte, und lächelte gutmütig.

      Helga erzählte während des Nachtischs noch ein paar Geschichten aus ihrer Schulzeit und berichtete über die vielen Dummheiten, die sie während ihrer Kindheit mit ihren Freunden gemacht hatte, jedoch nie ohne den mahnenden Zusatz, dass man solche Dummheiten eigentlich nicht machen sollte, was den Witz der einzelnen Geschichten allerdings nicht schmälern konnte. Es wurde fast den ganzen Abend gelacht und die Kinder durften etwas länger aufbleiben als normalerweise. Schließlich genoss ihre Mutter die Gesellschaft an diesem Abend. Ihren Mann hatte sie vor Stunden mit schweren Vorwürfen und ohne das sonst übliche „Bussi“ am Telefon verabschiedet, bevor sie den Telefonhörer wütend auf die Gabel geknallt hatte. Eine Handlung, die sie sich den Rest ihres Lebens noch selbst zum Vorwurf machen sollte.

      Irgendwann im Laufe des Abends hatte sie die Kompottschälchen in die Küche gebracht und Helga gefragt, ob sie noch eine zweite Flasche Wein mitbringen solle.

      Helga lehnte dankend ab und unterhielt sich weiter mit den Kindern, die gerade laut lachten, als Helga plötzlich verstummte. Sie hatte mitbekommen, dass ihre Gastgeberin am Telefon auf dem Flur war. Aber das, was sie in diesem Moment sehen musste, gefiel ihr absolut nicht.

      Der Gesichtsausdruck der Mutter sprach eine deutliche Sprache. Wortlos stand Helga auf, eilte auf den Flur und nahm die Frau am Telefon in ihren Arm. Auch Rene tat instinktiv das einzig Richtige, als er mit seiner kleinen Schwester an der Hand ins Kinderzimmer ging. Obwohl er spürte, dass etwas Schreckliches geschehen war, konnte und wollte er nicht weinen.

      Laut Polizeibericht und dem, was ein anderer deutscher Fernfahrer später zu Protokoll gab, löste sich der Stau, in dem sein Vater stand, bereits kurz nach dem Telefonat mit seiner Frau auf. Bei seinen Kollegen erkundigte er sich per Funk, ob die Autobahn nach Deutschland frei wäre, weil er so schnell wie möglich nach Hause zu seiner Familie wollte, um sie nicht schon wieder zu enttäuschen. Der Fahrtenschreiber wies nach Auskunft der Polizei eine Geschwindigkeit von 130 km/h auf, als sein Vater mit seinem Lkw und der nur schlecht gesicherten Ladung die Kontrolle verlor und in einer Kurve die Leitplanke durchschlug.

      Nur knapp 35 Kilometer von zu Hause entfernt war das schwere Fahrzeug von einer Brücke gestürzt. Die Ärzte gingen davon aus, dass der Fahrer, der aus dem Auto geschleudert wurde, auf der Stelle tot war.

      An den folgenden Tagen war Helga immer für die Kinder da, weil ihre Mutter viel zu erledigen hatte. Die Abende verbrachten die beiden Frauen meist zusammen. Erst drei Tage nach dem ersten gemeinsamen Abendessen, als die Kinder Helga gerade beim Auspacken der Umzugskartons halfen, stellte Julia die Frage, die eines Tages gestellt werden musste. „Ist Papa jetzt im Himmel?“

      Ohne zu zögern, sprang Helga auf und nahm die Kinder wortlos in den Arm. Sie musste auch nichts mehr sagen oder erklären. In den folgenden Wochen war Helga einfach nur für die Drei da. Sie war scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, zu einem Zeitpunkt, als man sie am meisten brauchte.

      Sie unterstützte die kleine Familie so gut sie es vermochte, kümmerte sich mit der Mutter zusammen um alle notwendigen Formalitäten sowie die Beerdigung, und wurde so zu ihrer besten Freundin. Eine Freundschaft, die ein Leben lang anhalten sollte.

      Immer noch die Hand der Sterbenden haltend sah Rene kurz auf den Monitor, bevor er sich abermals seinen Erinnerungen hingab..

      Er dachte an Helgas Stimme, wenn sie den Kindern damals aus einem Buch vorlas, wie auch an die unzähligen Kinderlieder, zu denen Helga sie mit dem Klavier begleitete. Immer wieder forderte sie die Kinder zum Mitsingen auf, indem sie ein und denselben Ton so oft wiederholte, bis Rene und seine Schwester mit einstimmten.

      Rene wartete darauf Julias helle Stimme wahrzunehmen, die fast immer den Anfang der beiden machte. Doch nichts geschah. Warum konnte er diesen Teil der Vergangenheit diesmal nicht zurückholen? Wo