Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


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Wenigstens hatte man irgendwann die Beleuchtung ausgetauscht, wofür die vielen Dübellöcher in Decken und Wänden sprachen.

       In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem sich eine Kaffeemaschine befand. „Willst du einen Kaffee?“, fragte Thomas, während er bereits eine Tasse mit einem Stück Zellstoff auswischte. „Gerne“, antwortete Rene. „Ich hoffe, du willst keine Sahne oder Zucker. So vornehm bin ich hier unten leider nicht. Ansonsten müsstest du dir deinen Kaffee oben am Automaten ziehen. Allerdings wäre er im Gegensatz zu dem hier bereits kalt, bevor du wieder zurück bist.“

      Thomas hatte sich seit damals sehr verändert. Er war zwar natürlich immer noch ungefähr 1,90 Meter groß, stellte aber inzwischen rein äußerlich einen ganz anderen Typ Mensch dar. Der ordentliche Straßenanzug, den er damals stolz getragen hatte, war einer einfachen Jeans und einem unmodischen dicken Pullover gewichen. Die Haare trug er inzwischen etwas länger als damals, wo er noch spätestens alle drei Wochen einen Friseur aufgesucht hatte. Offensichtlich hatte er seine Tätigkeit als Mitarbeiter in der Rechtsabteilung des Krankenhauses gegen den primitiven Job eines einfachen Hilfsarbeiters eintauschen müssen. Dass niemand einen solchen Weg freiwillig geht, das stand fest. Also erkundigte Rene sich sofort nach den Gründen dafür. Er nahm ihm die angebotene Tasse aus der Hand und wärmte seine Finger daran. „Was ist passiert? Du warst doch eigentlich auf dem Weg nach oben.“

      Thomas holte tief Luft. „Das dachte ich auch, bis mir letztes Jahr offensichtlich dieser kleine Handfehler passierte. Irgendso eine Tante hatte damals das Krankenhaus verklagt. Du weißt schon, so eine Tussi, der ihre Titten zu klein waren. Nach allem, was uns der Operateur damals versicherte, lief die Sache völlig glatt und es gab keinerlei Komplikationen. Das Implantat wurde vom Körper gut angenommen, und wenn man die Bilder davor und danach angesehen hat, dann konnte es nur eine Meinung geben. Es waren tatsächlich ein paar Prachttitten, die der Chirurg da gezaubert hatte. Man konnte bereits nach sechs Wochen kaum noch eine Naht erkennen. Also eine wahre Meisterleistung der medizinischen Kunst.“

      Rene musste schmunzeln. „Thomas, wie er liebt und lebt. Warum hat sie dann das Krankenhaus verklagt, wenn alles so gut verlief?“, wollte Rene wissen.

      „Nach ein paar Monaten wurde die Tante plötzlich unzufrieden. Erst klagte sie über Rückenschmerzen, und anschließend machte sie einen auf Depressionen. Ein klarer Fall von Abzocke also, wie er immer wieder vorkommt. Die Sache war ziemlich eindeutig, und wir hätten vor Gericht ganz locker gewonnen. Ich stellte damals die Unterlagen zusammen und unser Anwalt ging in die Verhandlung. Nur, dass ich wohl irgendwie eine falsche Datei aus dem Computer gezogen hatte, die schwere Depressionen einer anderen Patientin bestätigte. Ich druckte das Gutachten damals aus und legte das Deckblatt der richtigen Patientin darüber. Noch heute könnte ich schwören, dass es die richtige Datei war, die ich geöffnet hatte. Aber das, was unser Anwalt damals vor Gericht aus seinem Aktenkoffer zog, war, wie gesagt, das Gutachten einer Bekloppten. Dumm gelaufen würde ich sagen.“

      „Konntest du die Sache nicht wieder in Ordnung bringen? Schließlich war es doch nur ein Versehen.“

      „Leider nicht! Das Krankenhaus verlor den Prozess und der Patientin wurde ein Schmerzensgeld von 48.000,- € zugesprochen.“

      „Seid ihr nicht in Berufung gegangen?“

      „Genau das habe ich auch vorgeschlagen. Da allerdings inzwischen jedes Gericht seine Entscheidungen für endgültig rechtskräftig erklären kann, ließ der Richter weder Berufung noch Revision zu. Irgendwelche Verfahrensfehler lagen nicht vor, weil es ja unsere eigenen Unterlagen waren, die uns in dem Fall das Genick gebrochen hatten!“

      „Aber warum haben die dich gleich gekantet? Du warst doch der Liebling von eurem Anwalt-Häuptling, dachte ich immer.“

      „Die Krankenhausleitung brauchte einen Sündenbock und teilte mir, als jemandem, der nie studiert hatte, mit, dass ich in Zukunft Gelegenheit hätte, den Umgang mit Patientenakten zu üben. Kurzum, die wollten ein Exempel statuieren und da kam ich denen gerade recht.

      Seitdem sitze ich hier unten. Mein damaliger Chef der Rechtsabteilung wurde durch einen der drei Anwälte ersetzt, der natürlich nichts Besseres zu tun hatte als mich sofort zu kanten.

      Ich wette, dass man mit einem angehenden Juristen anders umgegangen wäre. Aber was soll‘s?“

      Thomas rührte, während er Rene sein Leid klagte, in seiner Kaffeetasse herum. Dann sah er ihn an. „Ich habe die ganze Zeit nur von mir gesprochen. Was ist mit Dir? Was führt dich in den Keller?“

      Rene setzte ein möglichst offizielles Gesicht auf. Nachdem er unerwarteterweise einen alten Bekannten getroffen hatte, hätte er ihn am liebsten inoffiziell um bestimmte Unterlagen gebeten. Nach dem, was Thomas jedoch widerfahren war, konnte er nicht erwarten, dass sein alter Freund gegen irgendwelche Vorschriften oder Regeln verstoßen würde.

      „Ich benötige ein paar Patientenakten aus den letzten zwei Jahren. Kannst du mir die zusammenstellen?“

      „Klar, soweit sie sich hier unten befinden, sollte das kein Problem sein. Das meiste ist im Moment jedoch nicht im Hause, weil es derzeit gescannt und digitalisiert wird, damit die behandelnden Ärzte und auch die Krankenkassen von überall einen schnellen Zugriff darauf haben. Erst danach wird alles wieder hier unten eingelagert, um dem Gesetz genüge zu tun. Schließlich haben alle Patienten einen Anspruch darauf, die Originalakten einzusehen. Bitte trag dich schon mal in die Besucherliste ein und gib mir den 414er. Ich suche dir die Sachen dann heraus.“

      Thomas schob Rene ein Klemmbrett über den Tisch zu, auf dem dieser seinen eigenen Namen, den des Arztes, der die Unterlagen anforderte, sowie Datum und Uhrzeit eintragen sollte.

      „Den 414er?“ Rene wusste nicht, wovon Thomas sprach.

      „Na das Anforderungsformular, das der Arzt, der dich schickt, unterschrieben hat.“

      „Ich wusste nicht, dass ich so einen Wisch brauche. Kannst du mir die Unterlagen nicht so geben? Ich müsste jetzt erst wieder hoch bis in die fünfte Etage und das Ding besorgen.“

      Thomas sah Rene misstrauisch an. „Sei mal ehrlich. Dich hat doch in Wahrheit niemand geschickt. Du willst selbst hineinsehen.“

      Rene senkte den Kopf wie ein Kind, das von seinem Vater bei einer Lüge ertappt worden war.

      Für Thomas war diese Geste ein eindeutiger Beweis, dass er mit seiner geäußerten Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte.

      „Geht es um deine Bekannte? Ich habe von der Geschichte gehört. Auch, dass du das halbe Krankenhaus verrückt gemacht hast, weil du mit der Behandlung unzufrieden warst.

      Weißt du, wir haben alle Verständnis für deine Situation, aber glaube mir, die Ärzte hier wissen genau, was sie tun. Schließlich gehört unser Haus zu den besten. Insbesondere im Bereich der Krebsforschung sind die Ärzte hier immer auf dem neuesten Stand.“

      Rene merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er war ein schlechter Lügner und Thomas hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ihn weiter anzulügen machte nach dieser Peinlichkeit keinen Sinn mehr.

      „Du hast recht. Es geht mir tatsächlich um Krankheitsverläufe aus dem Bereich der Onkologie, speziell die mit tödlichem Ausgang.“

      Thomas wurde kreidebleich. Rene wollte nicht nur die Akte seiner Bekannten einsehen, sondern die aller Patienten. „Bist du komplett wahnsinnig? Wenn so etwas herauskommen würde, dann könnten wir beide uns sofort als Hartz-IV-Empfänger anmelden. Und um einen Job in einem Krankenhaus bräuchten wir uns für den Rest unseres Lebens nicht mehr bewerben. Niemand würde uns jemals wieder einstellen. Tut mir leid, aber in diesem ganz speziellen Fall kann ich dir beim besten Willen nicht helfen, selbst wenn ich es wollte und bereit wäre meinen Job dafür zu riskieren.“

      Den letzten Kommentar verstand Rene nicht. Thomas bräuchte, wenn er es wirklich wollte, nur zu einem Regal gehen, die Akten herausnehmen und ihn einen kurzen Blick hineinwerfen lassen. Niemand würde davon erfahren.

      „Ich kann es nicht, selbst wenn ich es wollte.“

      „Du könntest die Tür offen