Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


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und Adressen einfach ab oder du kopierst die Seiten und markierst sie dort. Schließlich muss ich die Bücher bald wieder zurücklegen. Du hast im Übrigen dafür nur bis zum Wochenende Zeit. Anders als du habe ich geregelte Arbeitszeiten und mein Dienst endet Freitagabend um 16.00 Uhr. Ich weiß nicht, wer sich am Wochenende da unten herumtreibt und wem die Abwesenheit der Bücher auffallen könnte. Auch wenn die Dinger meist nur herumliegen, sollten wir kein unnötiges Risiko eingehen.“

      Rene entschied sich für die erste der zwei genannten Möglichkeiten, bei der er die infrage kommenden Adressen abschreiben würde. Er wollte sie in eine Datei auf seinem Laptop eingeben, wo er später auch alle weiteren Informationen hineinschreiben würde. Thomas bot an, diese Aufgabe der Datenerfassung für ihn zu übernehmen, weil er ähnlich strukturierte Daten bereits früher organisiert und gepflegt hatte, wenn es darum ging, vermeintliche Regressansprüche nach Ungereimtheiten zu untersuchen. Nicht immer liefen diese Untersuchungen fair ab, aber darauf kam es damals nicht an. Es war sein Job und den beherrschte er zu jener Zeit recht gut. Den Rest erledigten die Anwälte.

      „Ich bin gespannt, was wir alles finden.“ Rene schüttelte seinem neuen Verbündeten vor dem Restaurant zum Abschied die Hand. Dann begab er sich zu seinem Auto, das auf dem Parkplatz nur zwei Plätze von Thomas getunten BMW entfernt stand. Rene blieb noch einen Moment stehen, bevor er die Tür seines VW Golfs aufschloss und atmete die kalte Luft des Winterabends ein. „Ich hoffe, nichts“, flüsterte er sich selbst zu.

      Kaum zu Hause angekommen klingelte bereits Renes Telefon. Tanja, eine Kollegin, fragte an, ob er ihre Schicht am kommenden Morgen übernehmen könnte. Er müsste zwar auf seinen freien Tag und wahrscheinlich auch auf den darauf folgenden verzichten, aber dies würde sie später wieder gutmachen. Sie war mit ihrem Freund zusammen zu Besuch bei der 80-jährigen Großmutter in Holland, als plötzlich das Auto kaputtging. Das nötige Ersatzteil sollte erst am nächsten Tag eintreffen.

      Obwohl Rene eigentlich am nächsten Tag mit seinen Recherchen beginnen wollte, willigte er ein.

      Am darauf folgenden Morgen im Krankenhaus. Rene hatte sich bereits umgezogen und einen Kaffee eingegossen, als Claudia die Praktikantin zur Tür hereinkam. „Oh, was machst du denn hier? Ich hatte eigentlich Tanja erwartet.“ Rene erzählte ihr, warum er seinen freien Tag im Krankenhaus statt zu Hause verbrachte und erkundigte sich nach eventuellen Neuigkeiten, die er wissen müsse.

      „Wir haben einen Neuzugang in Bett 7a. Diesmal ein kleines Mädchen aus einem städtischen Kinderheim. Ein ziemlich trauriger Fall.

      Ich habe versucht sie etwas aufzuheitern und mit ihr zu spielen. Aber ich komme nicht an sie heran. Sie liegt nur reglos da und starrt unentwegt die Decke an. Vielleicht hast du als Mann mehr Erfolg.“

      „Ich werde sehen, was ich tun kann. Sagtest du 7a?“

      „Ja! Warum?“ Rene sah Claudia so eindringlich an, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Was ist aus der jungen Frau geworden?“

      „Sie ist letzte Nacht verstorben und wurde bereits zehn Minuten später abgeholt. Ich hatte kaum die Zeit das Bett für die Kleine vorzubereiten. Manchmal denke ich, die Leute stehen schon Schlange, um hier bei uns zu sterben.“

      Rene starrte in seine Tasse. „Sieht ganz so aus“, flüsterte er für Claudia kaum hörbar. „Fünf Tage!“, fügte er noch hinzu, womit die junge Frau jedoch nichts anfangen konnte.

      Anders als sonst gab es im Falle des kleinen Mädchens keinen Angehörigen, der bei ihr am Bett saß. Sie war ungefähr sieben Jahre alt und hatte ein Kopftuch umgebunden. Rene kannte den Grund dafür nur zu gut. Mit Gewissheit hatte sie bereits einige Chemo-Therapien hinter sich und inzwischen keine Haare mehr auf dem Kopf. Erwachsene Menschen in dieser Phase zu sehen, war mit Sicherheit eine der schwersten Aufgaben in seinem Job. Ein Kind jedoch beim Sterben zu beobachten, das brach Rene jedes Mal das Herz. Traurig stand er am Krankenbett und betrachtete das kleine Mädchen. Wie Claudia bereits erwähnt hatte, starrte die Kleine stumm zur Zimmerdecke hinauf.

      Offensichtlich gab es nur zwei Dinge, die ihr die Leute vom Heim mitgegeben hatten, als sie vor drei Monaten in die Notaufnahme kam, weil sie beim Spielen von einem Baum gefallen war: einen alten, verfilzten Teddybär, an dem sie sich krampfhaft festhielt, und ein Foto, das auf dem Nachttisch lag und spielende Kinder zeigte. Rene nahm es in die Hand und versuchte sie darauf auszumachen. Ihren Namen las er auf einem Klebestreifen am Fußende ihres Bettes: ‚Saskia‘.

      „Hey, Saskia! Ich bin der Rene. Ich bin hier, um dir zu helfen wieder gesund zu werden.“

      Saskia starrte immer noch die Decke an, als würde sie ihn nicht wahrnehmen. Dass dies nicht der Fall war, wusste er nur zu gut. ‚Na klasse!‘, dachte er bei sich. ‚Meine ersten Worte waren bereits eine Lüge und die Kleine ahnt es bestimmt.‘

      Das traurige Schicksal der Kleinen bewegte Rene und er war fest entschlossen ihr die letzten Tage so leicht wie möglich zu machen. Doch dafür müsste es ihm gelingen das Eis zu brechen.

      Intensiv betrachtete er das Bild in seiner Hand.

      „Wer sind die Kinder auf dem Bild hier? Deine Freunde?“

      „Egal!“ Die Antwort kam schnell und bestimmt.

      Immer noch sah sie ihn nicht an, aber sie sagte wenigstens etwas. Laut Claudia, die in der Tür stand und die Situation mit Tränen in den Augen beobachtete, war dies die erste Reaktion seit Stunden.

      „Nun, mir ist das nicht egal. Und, soll ich dir sagen warum nicht?“

      Immer noch versuchte Saskia ihn zu ignorieren. Dass er sie etwas fragte, weckte ihre Neugierde, was sie jedoch unmöglich offen zugeben konnte. Nur ein kurzer Blick zu dem Mann, der neben ihrem Bett saß, verriet, dass sie auf eine Erklärung wartete.

      „Weil du mir nicht egal bist. Verrätst du mir bitte, wer deine Freunde auf dem Bild sind?“

      Wieder bekam er keine befriedigende Antwort. „O. k., wenn du etwas brauchst oder dich einfach nur mal mit jemandem unterhalten möchtest, dann klingel nach uns.“ Rene stand auf, drehte sich um und lief bewusst langsam auf den Ausgang zu, noch immer in der Hoffnung, dass die Kleine es sich anders überlegen und mit ihm reden würde.

      „Jenny, Sabrina, Kevin, Mike und der blöde Sven.“

      Rene kam zurück, nahm das Foto noch einmal in die Hand und sah es sich genauer an. Es waren sechs Kinder abgelichtet. Davon ausgehend, dass sie, wie die meisten Menschen es getan hätten, die Kinder der Reihe nach von links nach rechts aufzählt hatte, vermutete er, dass das dritte Mädchen von links sie selbst war, ein Kind mit einem scheinbar fröhlichen Lachen in einem blauen Kleid. Dass selbst dieses Lachen nur für den Fotografen aufgesetzt war, konnte er deutlich fühlen. Alle Kinder mit Ausnahme von Sven, der ganz rechts stand, hatten etwas in den Augen, das ihre Traurigkeit ausdrückte, während der Mund lachte. Rene überkam ein kalter Schauer. Ohne diese Aufzählung hätte er keine Chance gehabt, unter den Mädchen auf dem Foto das Kind wiederzuerkennen, das nun vor ihm lag.

      Die Kleine hatte zum ersten Mal gesprochen, und das galt es zu nutzen. Würde er jetzt den Raum verlassen, dann wären diese fünf Namen das Letzte gewesen, was Saskia vor ihrem bevorstehenden Tod gesagt hätte. Dazu konnte Rene es nicht kommen lassen. Also stellte er, während er wieder auf dem Besucherstuhl Platz nahm, die nächste Frage.

      „Wo ist dein Teddy auf dem Foto?“

      „Mr. Bär?“ Endlich sah sie ihn an. Rene lächelte freundlich.

      „Ja! Mr. Bär.“

      „Der durfte nicht mit aufs Foto. Die wollen nicht, dass jemand sieht, wie alt die Spielzeuge sind, die sie uns zum Spielen geben. Aber das ist mir egal. Ich habe ihn trotzdem lieb.“

      Sie drückte das verfilzte Knäuel noch fester an sich.

      Rene wusste, dass er den Moment nicht überstrapazieren durfte. Zudem merkte er, dass ihm die Geschichte sehr naheging, und das wollte er sich nicht anmerken lassen. Langsam stand er wieder auf und streichelte Saskia sanft über die Stirn. „Wenn du etwas brauchst, dann klingel nach mir oder ruf mich einfach. Ich