Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


Скачать книгу

„Manfred hat sich damals alles in Kopie geben lassen. Eine alte Urlaubsbekanntschaft von uns, ein Mann, der selbst als Arzt unten in Bayern tätig ist, hatte sich damals alle Unterlagen angesehen, weil Manfred eine zweite Meinung haben wollte. Doch auch der konnte nur das bestätigen, was die Ärzte hier im Krankenhaus gesagt hatten. Wenn Sie mich allerdings fragen, dann haben die damals Mist gebaut. Manfred meinte noch drei Tage vor seinem Ende, dass die in einfache Menschen wie ihn ohnehin nur alte Batteriesäure von der Tankstelle reinkippen, während Promis das richtige Zeug bekommen. Wahrscheinlich hatte er recht und die Tankstelle hatte gerade keine Batteriesäure übrig. Denn sonst hätten die nicht vier Tage warten müssen, um ihm das Zeug zu geben“

      Diese Frau war tief im Innersten verbittert und Rene konnte es ihr nachempfinden.

      Er stand auf und nahm ihr den Karton aus der Hand. Anscheinend waren die Unterlagen ziemlich vollständig. Blatt für Blatt betrachtete er sie. Selbst die Ausdrucke der Computertomografie hatte sich der Verstorbene damals aushändigen lassen.

      Neben unzähligen Untersuchungsberichten fand er noch diverse Schreiben und Auswertungen vom Labor, das damals alle eingeschickten Daten überprüft hatte.

      Offensichtlich wurde in diesem Labor erstmals Krebs diagnostiziert.

      Er fragte, ob Frau Haller ihm die Unterlagen überlassen könne, aber das lehnte sie vehement ab. Vielleicht hoffte sie, dass eines Tages doch noch ein Kunstfehler entdeckt werden könnte und sie dann wenigstens eine angemessene Abfindung bekommen würde, auch wenn es ihren Ehemann nicht wiederbringen würde.

      Noch wichtiger aber war es für sie, im Falle eines Fehlers, die entsprechenden Ärzte zur Rechenschaft ziehen zu lassen.

      Rene legte alle Papiere wieder zurück in den Karton und übergab ihn Frau Haller.

      „Mir ist schon klar, dass es eine große Umstellung für Sie war, Ihr Leben jetzt komplett alleine meistern zu müssen. Wie lange waren Sie verheiratet?“

      „Wir hatten gerade mal die Silberhochzeit erreicht. Aber irgendwie muss es jetzt für mich trotzdem weiter gehen.“

      Sie lächelte kurz. „Sie sehen ja, was aus mir geworden ist. Ich musste in eine kleinere Wohnung umziehen. Zum einen wegen der hohen Miete und zum anderen wollte ich nicht in jedem Raum an unsere gemeinsame Zeit erinnert werden. An 25 Jahre, von denen ich keinen einzigen Tag missen möchte. Und uns hätten noch 25 weitere Jahre zugestanden. Am meisten quält mich die Frage, ob es die Ärzte im Krankenhaus waren oder ob das Leben selbst mich darum betrogen hat.“

      Unfähig ihr diese Frage beantworten zu können stand Rene auf. „Ich muss jetzt auch langsam los. Ich muss heute noch in die Nachtschicht. Vielen Dank, dass ich hier sein durfte.“

      Am liebsten hätte er die Witwe in den Arm genommen, beschränkte sich jedoch auf einen herzlichen Händedruck, der sein Mitgefühl so deutlich ausdrückte, wie er es vermochte.

      Wieder in seiner Wohnung angekommen, legte er das Diktiergerät auf den Tisch neben sein Laptop. Anschließend ging er in die Küche und holte sein Fertiggericht, das inzwischen schon den zweiten Tag im Kühlschrank darauf wartete, gegessen zu werden. Er wärmte es in der Mikrowelle auf und fünf Minuten später stand etwas auf den Tisch, bei dem es sich laut Verpackung um Gulasch handeln sollte, aber geschmacklich eher an eingeweichte Bierdeckel erinnerte. Trotzdem aß er es komplett auf, während er sich das Gespräch mit Frau Haller noch einmal anhörte.

      Dass auch ihr Mann fünf Tage auf seiner Station gelegen hatte, war ihm schon aufgefallen, als sie es ihm eine Stunde zuvor erzählt hatte. Aber da war noch etwas, etwas, das er gesehen, aber nicht richtig eingeordnet hatte.

      War es etwas in den Papieren, die er betrachtet hatte?

      Er wusste, dass er auf diese Frage in dem Moment keine Antwort finden würde, und beschloss schlafen zu gehen. Schließlich stand ihm noch eine lange Nacht bevor. Nur zwei Stunden später wurde er durch das Klingeln seines Telefons aus seinem unruhigen Schlaf geweckt. Thomas meldete sich am anderen Ende und fragte an, ab wann Rene allein auf der Station sei. Schließlich könne man die Zeit nutzen, sich in der aktuellen Patientendatei schon einmal umzusehen. Sie verabredeten sich für 22.00 Uhr am Abend.

      Rene machte sich auf den Weg ins Krankenhaus, wo Saskia bereits den ganzen Nachmittag und Abend auf ihn gewartet hatte. Tanja berichtete es ihm, als er sie ablöste. „Die Kleine hatte einen sehr schlechten Tag. Dr. Seehof musste zweimal kommen und die Dosierung erhöhen. Am besten du gehst gleich zu ihr. Sie fragt schon die ganze Zeit nach dir.“

      Rene ging sofort ans Krankenbett seiner Lieblingspatientin. „Hey, Mr. Bär! Hast du irgendwo die Saskia gesehen?“ Saskia spielte dieses kleine Spielchen sofort mit. Ihr Versuch mit tiefer Stimme zu sprechen klang zwar niedlich, aber zugleich auch traurig. Rene erkannte den Grund in dem Moment, als sie zu sprechen anfing. Der Knochenkrebs hatte bereits drei Wochen zuvor Metastasen in der Lunge verursacht und schon bald würde die Atmung komplett versagen.

      „Hey, Rene. Saskia fragt, ob du etwas mit ihr spielst.“

      „Klar! Hat Saskia Lust auf ein richtig schweres Rätsel?“

      „Ja, Saskia liebt Rätsel.“

      Er schob ihr ein Kissen in den Rücken, setzte sich auf den Rand des Bettes und sah in ihre kleinen erwartungsvollen Augen.

      „Na gut. Ist aber wirklich ein schweres Rätsel. Du musst dich also anstrengen.“

      Saskia nickte kurz. „Also! Warum heißt der Löwe, Löwe?“

      „Mhmmm? Keine Ahnung. Warum?“

      „Na, ganz einfach. Weil der durch die Wüste löwt.“ Saskia lächelte.

      „Pass auf. Jetzt wird es noch schwerer. Warum heißt der Tiger, Tiger?“

      „Ist doch einfach. Bestimmt, weil er durch die Wüste tigert.“

      „Falsch“, sagte Rene. „Er heißt Tiger, weil er auch durch die Wüste löwt. Aber viel heftiger.“

      Beide lachten. „Noch ein Rätsel bitte!“, rief Saskia, wobei sich ihre Stimme fast überschlug und einen kurzen, aber heftigen Hustenanfall auslöste. Nachdem Rene ihr schnell einen Schluck vom Tee auf ihrem Nachttisch gegeben und sie sich wieder etwas beruhigt hatte, bekam sie ihr zweites Rätsel.

      „Na gut eins noch. Aber du musst mir versprechen, nicht wieder so doll zu lachen, dass du wieder husten musst.“ „Versprochen“, sagte Saskia.

      „O. k., aber wie gesagt, nicht wieder so doll lachen. Also! Weißt Du, wie lange Krokodile leben?“ Saskia zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht.“ „Na ganz einfach. Lange Krokodile leben genauso wie kurze Krokodile.“ Wieder schaffte er es, seine Patientin zum Schmunzeln zu bringen. Einen Hustenanfall wie zuvor wollte Saskia nicht noch einmal riskieren, weshalb sie versuchte sich besser unter Kontrolle zu halten, was ihr augenscheinlich auch recht gut gelang.

      Tanja, die sich verabschieden wollte, kam in diesem Augenblick bereits in ihrer Straßenkleidung ins Zimmer. „So Saskia“, sagte sie. „Wir beide sehen uns morgen wieder. Und Rene! Da wartet ein Besucher für dich vor der Station. Ich habe gesagt, dass du gleich zu ihm nach draußen kommst.“ Rene streichelte Saskia noch einmal über den Kopf. „Du hast ja gehört Maus, ich muss mich erst mal um einen Besucher kümmern. Wenn du etwas brauchst, klingelst du nach mir. O. k.? “ „Blöder Besucher. Immer wenn es lustig ist, müsst ihr Erwachsenen weg.“

      Rene lief zum Eingang und ließ Thomas rein. „Sicher, dass niemand kommt und uns stört?“, fragte Thomas ihn.

      „Wenn kein Notfall eintritt, sollte die Nacht eigentlich ruhig verlaufen. Ich bin hier oft nur so eine Art Nachtwächter, der ab und zu nach den Patienten sieht. Aber zum Glück sind es immer nur drei.“

      „Immer drei?“

      Rene wusste sofort, auf was Thomas hinauswollte. „Immer drei! Jetzt, wo du es erwähnst, finde ich es schon merkwürdig. Nie steht ein Bett leer und nie brauchen wir ein viertes. Wie sagte meine Kollegin gestern? Anscheinend stehen die Leute schon Schlange, um hier sterben zu dürfen. Immer