Stefan Heidenreich

Fünf Tage - Thriller


Скачать книгу

am Vormittag einen Kasten Konfekt von einer Tankstelle besorgt, den er nun überreichte. Frau Haller sah wesentlich erholter aus, als er sie in Erinnerung hatte. Anders als damals, wo sie aus Kummer eher abgemagert wirkte, hatte sie offensichtlich einiges an Gewicht zugelegt. Für ihr Alter wirkte sie noch ungewöhnlich jugendlich. Zumindest kleidete sie sich entsprechend. Rene sah sich in der Wohnung um. Wie hatte diese Frau den Tod ihres Mannes verarbeitet? Gab es Hinweise darauf, ob sie inzwischen wieder in einer Partnerschaft lebte? Alles das hoffte Rene im darauf folgenden Gespräch herauszufinden.

      Frau Haller hatte bereits Kaffee gekocht und goss ihm gerade eine Tasse davon ein.

      Anschließend fragte sie ihn, ob er das Gespräch vielleicht aufnehmen oder sich lieber Notizen machen möchte.

      Dankbar dafür, dass sie ihm diese Bitte erspart hatte, zog Rene ein Diktiergerät aus der Tasche, das er vor ein paar Jahren von einem Oberarzt geschenkt bekommen hatte, der sich seinerzeit ein digitales Gerät zulegte.

      „Was wollen Sie also von mir wissen?“ Frau Haller schien direkt begierig darauf zu sein, ihre Geschichte jemandem erzählen zu können.

      „Interessiert Sie, wie es mir nach dem Tod von Manfred ergangen ist?“

      Rene rührte die Kaffeesahne in der Tasse um, legte den Löffel beiseite und erklärte ihr, was er wissen wollte. Anders als Frau Haller es erhoffte, wollte er zunächst nichts über ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes erfahren, sondern viel mehr über die letzten Wochen und Monate davor. Er wusste, was er ihr damit abverlangen würde. Sie musste die wohl schlimmste Zeit ihres Lebens für ihn noch einmal durchmachen. War sie dazu bereit? Rene versuchte, es ihr so schonend wie möglich beizubringen.

      „Mich interessieren zunächst erst mal andere Sachen. Zum Beispiel wie kam es zur Diagnose? Wie hat er es aufgenommen und was ist von dem Moment an bis zu seinem Todestag alles passiert? Am besten, Sie fangen einfach zu erzählen an. Wenn es Ihnen zu nahegeht, dann sagen Sie mir bescheid und wir machen eine Pause. Ich möchte keine alten Wunden aufreißen. O. k.? “

      Frau Haller war einverstanden, und nachdem auch sie einen Schluck Kaffee getrunken hatte, fing sie zögerlich zu erzählen an.

      „Eigentlich war Manfred immer kerngesund. Bis zum Alter von 35 Jahren spielte er aktiv Fußball und später Tennis. Ich habe Manfred nie klagen hören.

      Er sagte immer, wenn man nicht krank sein will, dann ist man es auch nicht. Darum mied er Ärzte, wo immer es ging.

      Ich muss bestimmt nicht erwähnen, dass er durch diese Überzeugung auch nie zu irgendeiner Krebsvorsorge-Untersuchung ging. Auch nicht, als er dann älter wurde.

      Einfach nur deshalb, weil er nie etwas davon gehalten hat. Ich glaube, er wollte nicht wahrhaben, dass auch er eines Tages krank werden könnte. Oder er wollte es einfach nicht wissen.“ Auf einem Regal neben dem Fernseher stand das Hochzeitfoto der beiden. Rene betrachte es, während seine Gastgeberin ihre Geschichte erzählte.

      „Eines Morgens vor zweieinhalb Jahren jedoch klagte Manfred bereits gleich nach dem Aufwachen über heftige Rückenschmerzen. Ich ging davon aus, dass er nur schlecht geschlafen oder sich im Schlaf einen Nerv eingeklemmt hatte. Er war ein halbes Jahr zuvor arbeitslos geworden, sodass er eigentlich genügend Zeit gehabt hätte, so etwas auszukurieren. Erst später erzählte er mir, dass ihn dieses Problem bereits seit Wochen gequält hatte. Er hoffte wohl, dass sich die Sache irgendwann von allein erledigen würde.“

      „Hatten sie denn keine Chance ihn zum Arzt zu schleppen?“, wollte Rene wissen.

      „Manfred und Arzt? Das kam für ihn nicht infrage. Zuerst versuchten wir es mit Salbe aus der Apotheke und später mit einem Wärmepflaster.

      Die Schmerzen wurden aber einfach nicht weniger. Ich musste mit Engelszungen auf ihn einreden, bis er endlich zum Arzt ging. Nach ungefähr einer Woche hatte ich ihn so weit. Wir fuhren zu einem Orthopäden, der erst den Rücken abtastete und später röntgte. Doch er konnte nichts finden. Vorsichtshalber verschrieb er Manfred eine weitere Salbe, mit der ich ihn dreimal am Tag einrieb. Der Bereich, in dem er über Schmerzen klagte, wurde nach drei Tagen so druckempfindlich, dass ich kaum eine Chance hatte, ihm beim Einreiben nicht wehzutun. Wir gingen wieder zum Orthopäden, der uns erklärte, einen so hartnäckigen Fall bisher noch nicht behandelt zu haben.

      Also gab er uns eine Überweisung ins Klinikum. Auch dort wurde der Rücken abgetastet und geröntgt.

      Manfred schrie bei jeder Bewegung förmlich auf. Ich weiß noch, wie der Arzt damals sagte, dass mein Mann nicht so wehleidig sein solle. Ich aber kannte ihn besser und konnte daher ungefähr einschätzen, welche Qualen er dabei durchlebte. Aber auch bei dieser Untersuchung konnte genauso wenig die Ursache gefunden werden, wie beim Betrachten der Röntgenbilder.“

      Rene konnte sich ungefähr vorstellen, wer die ersten Untersuchungen damals durchgeführt hatte und nickte verständnisvoll. In dem meisten Fällen war es ein ehemaliger Stationsarzt, der für seine rüpelhafte Art bekannt war. Frau Haller atmete mit geschlossenen Augen einmal tief durch, bevor sie weitersprach.

      „Nach Rücksprache mit dem zuständigen Oberarzt wurde Manfred in der Orthopädie stationär aufgenommen und in den nächsten Tagen von den verschiedensten Ärzten untersucht.

      Irgendwann, als niemand mehr weiterwusste, beschlossen die Ärzte eine Computertomografie vorzunehmen. Ohne uns ihren Verdacht zu nennen, begann man auf Krebs zu untersuchen.

      Drei Tage später teilte man uns das Ergebnis mit.“

      Rene bemerkte, dass Frau Haller ihre Tasse mit beiden Händen zum Mund führte. Obwohl der Tod ihres Mannes schon so lange zurücklag, konnte sie in dem Moment das Zittern nicht unterdrücken. Am liebsten hätte er ihr angeboten das Gespräch abzubrechen. Gleichzeitig wusste er aber, dass es Menschen oftmals hilft, über Dinge zu reden, wie diese Frau sie erlebt hatte. Er drängte sie zu nichts und nahm ebenfalls einen Schluck aus seiner Tasse.

      „Entschuldigung, aber immer, wenn ich darüber spreche, dann geht es mir so.“

      „Sie müssen sich für nichts entschuldigen.“ Rene streckte seine Hand auf dem Tisch aus, um mit einer Geste anzubieten das Diktiergerät auszuschalten.

      „Lassen Sie es ruhig an. Es geht schon wieder. Also! Wie gesagt bekamen wir das Ergebnis nach drei Tagen mitgeteilt. Sie hatten irgendetwas in seiner Wirbelsäule gefunden und daraufhin noch eine Ultraschalluntersuchung gemacht, um die Ursache zu finden. Dabei erkannten sie einen fortgeschrittenen Blasenkrebs. Ich frage mich heute immer noch, wie etwas an der Wirbelsäule mit der Blase in Zusammenhang stehen kann. Als wir das Ergebnis damals erfuhren, waren wir wie gelähmt. Ich habe die ganze Zeit geheult, als die Ärzte das erste Mal von einer Chemotherapie sprachen. Wir hatten bis dahin von bestimmt 10 Fällen im Bekanntenkreis und unserer Verwandtschaft gehört und die Leute nach diesen Behandlungen verschiedentlich sogar gesehen. Es war jedes Mal ein schrecklicher Anblick, so abgemagert waren sie, im Gesicht eingefallen und kaum noch Haare auf dem Kopf.

      Keiner dieser Freunde und Verwandten hatte danach noch länger als ein halbes Jahr gelebt.“

      Rene musste an die kleine Saskia mit ihrem Kopftuch denken. „Das muss allerdings nicht auf jede Chemotherapie zutreffen.“ Versuchte er die Frau zu trösten.

      „Ich weiß, trotzdem hatte ich eine wahnsinnige Angst. Manfred meinte allerdings, dass ihn so ein bisschen Säure nicht gleich umbringen würde, und willigte in die Therapie ein. Warum mit der Behandlung allerdings erst vier Tage später angefangen wurde, das habe ich bis heute nicht verstanden. Wahrscheinlich war das mal wieder so eine wirtschaftliche Entscheidung.“ Rene sah seine Gesprächspartnerin mitleidig an. „Na ja“, sagte sie „Den Rest kennen Sie ja. Nach der zweiten Chemo kam er ja dann zu Ihnen. In dem Moment war mir klar, dass ich den Rest von Manfreds Leben bei ihm im Krankenhaus verbringen würde. Und obwohl es die schwersten fünf Tage meines Lebens waren, möchte ich keine Sekunde davon missen.“

      Rene schaltete das kleine Tonbandgerät aus und drückte der Frau über den Tisch hinweg die Hand. „Sie schaffen das schon“, sagte er leise. „Sie sind eine starke Frau. Eine Frage habe ich allerdings noch. Haben Sie noch