Metin Buz

Wer hat Gerlinde Bauer getötet?


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immer das Wir — die Familie, die Verwandten, das gan-ze Dorf. Seine Persönlichkeit war geprägt von seiner Herkunft aus armen Familienverhältnissen, von der Immobilität eines der Tradition und dem Brauchtum verhafteten Dorfes, einer Erziehung, die gegenüber den Älteren und Fremden zu Respekt und Ehrerbie-tigkeit verpflichtet; höflich zurückhaltend, freundlich und respektvoll. Die Normen und Werte des Kapitalis-mus aber bedeuteten distanzierte, kühle Beziehungen zwischen den Menschen, Egoismus und Respektlosig-keit als Beleg eines guten Selbstbewusstseins, gren-zenlose Freizügigkeit als Zeichen der Freiheit, Respekt in Abhängigkeit von Berufsstand, Einkommen und Kleidung des Gegenübers. Zwei Welten: In der einen erstickt der Mensch im Kerker der dunklen Geister, im Brauchtum. In der anderen verdunstet der Mensch regelrecht in der Hitze des Kapitalismus und wird schließlich recycelt als Objekt des Kapitals.

      Es bedurfte jahrelanger Diskussionen mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen inner- und außerhalb der Firma, bis er diese Mechanismen annähernd begriff. Trotzdem hielt er die guten zwischenmenschlichen Beziehungen für den Schlüssel aller Erfolge im Privat- und Arbeitsleben. Er spürte einen immer mehr erstarkenden Widerstand in sich, einen Widerstand gegen die neuen Werte der Globalisierung, deren Annahme er wie einen Verrat an sich selbst, wie die Aufgabe seiner eigenen Persönlichkeit empfunden haben würde.

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      Als würde er seinem Hobby nachgehen, begann Bergstein mit vollem Eifer an, die auf der Betriebsver-sammlung angekündigte Personalreduzierung umzu-setzen. Nach mehreren Verhandlungen mit dem Betriebsrat wurden ein zweistufiger Sozialplan und ein Interessenausgleich aufgestellt, in dem als Maßnah-men zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit die Verlagerung der Kabelproduktion – sie war sechs Jahre nach Abschluss des Sozialplanes immer noch nicht verlagert – und die (doch bereits abgelaufenen!) Auf-träge der Kunden Lucis, Kaito und Osada aufgeführt waren. Der neue, große Auftrag des Automobilher-stellers UVEC, der erst aber mehrere Monate später anlaufen sollte, wurde bei den Verhandlungen strikt geheim gehalten. „Diese Maßnahmen dienen dazu, dass von den 370 Stellen 60 zum 1. Juli 2001 entfallen.“

      Die entlassenen Mitarbeiter, das waren überwiegend ältere über 50 und solche, die gesundheitlich ange-schlagen oder einfach unliebsam waren, wurden in einer Personalentwicklungsgesellschaft geparkt und bezogen von dort ein beziehungsweise zwei Jahre lang – je nach Alter des Arbeitnehmers - 80 % ihres bis-herigen Nettogehaltes. Diese Personen wurden weder weiter qualifiziert, noch wurden sie irgendwo beschäf-tigt, noch irgendwie betreut, noch wohin auch immer vermittelt. Die Personalentwicklungsgesellschaft, in der Praxis "Auffanggesellschaft" oder "Transfergesell-schaft" genannt, wurde vom entlassenden Unterneh-men und von den damaligen Arbeitsämtern finanziert, ohne dass jemand die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung, einer solchen Massenentlassung über-haupt prüfte. Ein Antrag des Arbeitgebers, der nicht hinterfragt wurde, reichte aus, und die Umsetzungs-maßnahme samt Zuwendung staatlicher Zuschüsse wurde genehmigt. Jedes Mal kam ein Beamter, ein gewisser Dieter Jordan, den Bergstein gut zu kennen schien, und beriet Bergstein. Sie trafen sich immer in einem Restaurant am Zoo. Bergstein bedankte sich jedes Mal mit einem dicken weißen Umschlag in einer dicken Stofftasche, die er dem anderen überreichte, nachdem er das Lokal mit seinen wandernden Blicken kontrolliert hatte.

      So bezahlte der Staat den überwiegenden Teil der Massenentlassung. Nur für einen geringen Anteil kam der Betrieb auf. Der Staat hat auch die Folgen der Entlassung bezahlt. Firmen, die angeblich kriselten, wurden so nach einiger Zeit wieder kerngesund.

      Brás zitierte immer wieder den Gesetzestext und lachte bitter über solche gesetzlich verankerte Betrügereien: „Die Teilnahme von Arbeitnehmern, die aufgrund von Betriebsänderungen oder im Anschluss an die Beendigung eines Berufsausbildungsverhältnisses von Arbeitslosigkeit bedroht sind, an Transfer-maßnahmen wird gefördert, wenn die Maßnahme von einem Dritten durchgeführt wird, die vorgesehene Maßnahme der Eingliederung der Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt dienen soll, die Durchführung der Maßnahme gesichert ist und ein System zur Sicherung der Qualität angewendet wird. Transfermaßnahmen sind alle Maßnahmen zur Eingliederung von Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt, an deren Finanzierung sich Arbeitgeber angemessen (!) beteiligen. (…) Die Förderung wird als Zuschuss gewährt. Der Zuschuss beträgt 50 Prozent der aufzuwendenden Maßnah-mekosten, jedoch höchstens 2.500 Euro je gefördertem Arbeitnehmer.“

      Die Gewerkschaften verhielten sich nicht anders. Sie profitierten von der Situation, gründeten eine eigene Personalentwicklungsgesellschaft und plädierten auf der Betriebsversammlung für die Maßnahme, anstatt die Massenentlassung zu verhindern oder infrage zu stellen.

      Das zufriedene Lachen der Direktoren in New York und das Klirren der Sektgläser schallte von Amerika bis nach Villbeck. Die Telefonleitungen platzten beinah vor lauter Jubel, den sie zu transportieren hatten, und als es soweit war, entleerten sie sich mitten in die Brust von Bergstein, der daraufhin wie ein riesiger Luftballon anschwoll. Seine Füße berührten kaum noch die Erde. Direktoren, deren Pupillen aus Dollarzeichen bestan-den, und deren Sätze mit Dollarzeichen endeten und nicht mit einem Punkt, ehrten ihn in der Konzern-zentrale für die so kostengünstige Massenentlassung! Durch seine Restrukturierung seien die Aktien in die Höhe geschnellt. Mit geringem Aufwand seien Personalkosten reduziert worden, das hätte den Aktienkurs enorm beflügelt. Sie klopften ihm auf die Schulter, erweiterten seinen Zuständigkeitsbereich auf ganz Nordeuropa und verdoppelten sein Gehalt.

      Bergstein wuchsen Flügel, und er stieg hoch in die Luft. Die Gegenstände, insbesondere die Menschen, wurden dabei in seinen Augen immer kleiner. In Wirklichkeit hatte Bergstein aber nur eine Betriebs-vereinbarung geschlossen, eine Vereinbarung, deren Muster er von seinem alten Arbeitgeber besorgt hatte; mit den Folgen des Sozialplans selbst hatte er nichts zu tun. Als es soweit war, befand er sich ständig auf angeblichen "Dienstreisen". Die eigentliche, die Drecksarbeit, wie Anmeldung der Massenentlassung beim Arbeitsamt, Gespräche mit jenen Mitarbeitern, die in die „Personalentwicklungsgesellschaft“ wech-seln oder „freigesetzt“ werden sollten, Anhörung des Betriebsrats und schließlich das Verfassen von Aufhe-bungsverträgen erledigte Brás ganz allein.

      Die Erstellung der Tabellen für die Personalentwick-lungsgesellschaft, die Eingabe der Abfindungen in das System und die darauf gestützten Abrechnungen machte Hans-Martin Herbst. Sie hatten an allen Wochenenden im April gearbeitet. Sie waren den Enttäuschungen und berechtigten Aggressionen ihrer Kollegen ausgesetzt. Sie hatten die Entlassungen zu rechtfertigen, mit denen sie doch selbst nicht einverstanden waren. Mani Brás leitete die Personal-abteilung seit der Entlassung seiner Chefin bis Ende April 2001 erfolgreich. Er arbeitete nach wie vor sehr motiviert. Er war der einzige Ansprechpartner der Personalabteilung, da Bergstein oft abwesend war, und konnte endlich sein Fachwissen umsetzen.

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      Bergstein hatte eine auffällige Zuneigung zu bestimmten Typen von Frauen. Für ihn gab es zwei Sorten von Frauen, und zwar die, die mit ihrem Aussehen ihrer Kleidung auf ihn anziehend wirkten, und die, die er aufgrund des Alters und der Erscheinung als Mutterersatz sah. Die Ersteren waren sich ihrer Schönheit und ihrer sexuellen Ausstrahlung bewusst, die sie auch immer wieder einsetzten, wenn sie etwas erschleichen wollten. Starke Frauen oder Frauen, die auf ihre Kleidung nicht achteten, mied er. Wenn solche Mitarbeiterinnen oder Besucherinnen ihm während eines Gesprächs widersprachen, bekam er ein knallrotes Gesicht und stotterte -trotz seiner hohen Position im Unternehmen. In einem kleinen, sicheren Kreis lachte er über diese Frauen, indem er ihre Sätze Grimassen schneidend wiederholte und ihre angeblich alternativ aussehende Kleidung abfällig beschrieb.

      Bergsteins Kopf war immer etwas nach links gebeugt. Er hatte kurze, stachelige Haare, die seinem Kopf das Aussehen eines Igels bescherten. Sein Gesicht war oval. Er trug eine Brille. Seine Blicke waren immer in die Ferne fixiert, als würde er sich gerade mit Sachen beschäftigen, die eine besondere Anstrengung verlangten. Er schien selten geistig abwesend und ebenso selten hörte er einem zu -- was zur Folge hatte, dass er die gleiche Sache mindestens vier- bis fünfmal erfragte, falsch wiedergab und die Zusammenhänge nicht erkannte. Auch Auch nach Jahren kannte er die meisten Mitarbeiter nicht. Er kannte nur die Namen der Mitglieder der Geschäftsleitung und die einiger Vorgesetzter. Seine Nase war spitz, seine Ohren wirkten durch die kurzen Haare noch größer und