Metin Buz

Wer hat Gerlinde Bauer getötet?


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als Schreibkraft in der Abteilung Fertigungsplanung.

      Vierundzwanzig war sie damals. Jung, groß, schlank, lange Haare und endlos lange Beine. Ihre betont weib-liche Erscheinung, eine klug gewählte Kleidung, kalku-liert freizügig und ihre Linien unterstreichend, doch hinreichend dezent, lenkte ab von dem länglichen Ge-sicht, das für sich betrachtet ein wenig unreif aussah. Punkten konnte sie besonders mit ihrer Ausstrahlung. Sie wirkte ausgeglichen, fröhlich und manchmal beinah übermütig, was dem Gegenüber zumeist den Eindruck vermittelte, dass sie wisse, was sie wolle, von sich überzeugt sei und sich von ihren Entscheidungen auch nicht leicht abbringen lasse.

      Vier Jahre war sie mit einem sehr konservativen Mann unglücklich verheiratet gewesen, einem Mann, der sich weder von seiner Mutter hatte lösen können noch von den Bräuchen und Traditionen des kleinen Dorfes am Rande Villbecks, in dem sie wohnten. Nun, nach der Scheidung, fühlte sie sich einerseits frei, wie aus langer Gefangenschaft entlassen. Andererseits merkte sie immer wieder, wie die Wut auf den Ex-Mann, auf seine Familie, auf sich selbst und die verlorenen Jahre in ihr hochstieg. Sie sehnte sich nach einem wirklich freien Leben, nach Anerkennung ihres Frau-Seins, und sie träumte davon, Versäumtes nachzuholen. Denen, für die sie bestimmt war, blieb die erotische Aura der Willigen nicht verborgen. Sie war die einzige Frau in der Abteilung, und Nähe zu den männlichen Mitar-beitern stellte sich ein. Eine beinah kindlich offene Art, ansteckende Neugier und die kaum verhohlene Be-reitschaft zu flirten, zu necken und zu spielen, das waren Reize, die die begeisterten Kollegen wohl zu schätzen wussten.

      Später sagte sie immer wieder, dass die Zeit in der Fertigungsplanung ihre schönste Zeit in der Firma gewesen sei. Sie erzählte von den Gesprächen, die sie damals miteinander führten, von Witzen und witzigen Verhaltensweisen der Kollegen, zum Beispiel in den ausgedehnten Frühstücks- und Mittagspausen, von den einmal im Jahr gemeinsam unternommenen Rei-sen innerhalb Deutschlands oder von den Weihnachts-feiern am letzten Arbeitstag des Jahres vorm Heiligen Abend, die schon so früh begonnen und so spät geendet hätten. Gegessen habe man reichlich und gut, und der Alkohol sei wie Wasser geflossen, sodass die meisten Kollegen am Ende total besoffen und nicht mehr in der Lage gewesen seien, alleine nach Hause zu fahren. Auch von den alljährlichen Betriebs-, Jubi-läums- und Geburtstagsfeiern berichtete sie; begeis-tert schwärmte sie von der Atmosphäre, die dabei ge-herrscht habe. Das Beste sei freilich gewesen, dass man sich immer gegenseitig geholfen habe, dass man sich die Zeit genommen habe, sich auszutauschen, nach dem Wohlbefinden des anderen, nach seinen Urlaubserlebnissen zu fragen, gemeinsam über Freu-den und Sorgen zu reden. Aber wenn es ums Arbeiten gegangen sei, hätten sie sich alle am Riemen gerissen und hätten sich nach Kräften eingesetzt; unendlich motiviert seien sie gewesen und hätten darum immer alles gegeben, alles, was sie geben konnten. Wenn erforderlich, hätte man manchmal auch bis zum späten Abend und samstags und sonntags gearbeitet. Aufträge und Arbeit hätten sie genug und mehr als genug gehabt damals. Von allen namhaften Auto-mobilherstellern hätten sie Aufträge erhalten, die Geschäfte seien gut gelaufen, sehr gut sogar. Drei Schichten habe man gefahren, und selbst die seien überlastet gewesen. Die Gewinne hätten nur so ge-sprudelt, ein Teil sei in den Aufbau neuer Fertigungs-werke in Birmingham und Ilmenau gegangen. Später, als Personalleiterin, sei es ihr eine große Freude ge-wesen, die Leute von der Straße zu holen und fast jeden, der vorbeikam, einstellen zu können.

      Dann ihre Zeit in der Personalabteilung; nach zwei Jahren war sie hierhin versetzt worden, als Sekretärin zunächst. Bald begleitete sie den Geschäftsführer auf dessen häufigen Dienstreisen nach Amerika, England, Italien und Spanien, aber auch zu Kunden im Inland, Automobilherstellern zumeist. Das stärkte das Selbst-bewusstsein der noch immer vorwitzig frech wir-kenden, in Wirklichkeit jedoch wegen ihrer Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen schüchternen jungen Frau ganz enorm.

      Eines Tages verstarb unerwartet ihre Vorgesetzte, eine um etliches ältere Frau, alleinstehend und alkoholab-hängig. So standen ihr mit einem Mal alle Karriere-chancen offen, sie brauchte sie nur zu ergreifen. Und das tat sie. Denn als der Geschäftsführer ihr wenig später die Nachfolge der Verstorbenen auf die Stelle der Personalleiterin antrug, eine mit allen Befugnissen ausgestattete Position direkt unterhalb der Führungs-ebene mit Berichtspflicht direkt an ihn, zögerte sie keine Sekunde, dieses Angebot anzunehmen. Erfüllt von Freude und Stolz, gewann sie Statur und wuchs schnell in die neue Stelle und deren Bedeutung hinein. Von nun an pflegte sie ihre äußere Erscheinung noch bewusster: Immer hielt sie sich kerzengerade, achtete (natürlich!) auf Gewicht und Figur sowie darauf, dass Make-up, Frisur und Kleidung perfekt zueinander-passten, kontrollierte Mimik, Gestik und Haltung auch in schwierigster Lage und gewöhnte sich an, souverän durch die Flure zu schreiten und dominant einen Raum zu betreten.

      Bald schon hatte sie sich allseits Achtung und Aner-kennung erworben: bei den Unternehmen und Insti-tutionen, mit denen sie geschäftlich zu tun hatte, ebenso wie bei Vorgesetzten und bei den Mitar-beitern, quer durch die Abteilungen hindurch. Wo immer sie erschien — Engineering, Marketing, Ferti-gungsplanung, Einkauf oder Produktion — begegnete man ihr mit großem Respekt. Ihr blieb das nicht ver-borgen, und sie fühlte, wie sie aufblühte vor Freude und Stolz. Doch was war das für eine schöne Zeit ge-wesen, als sie beschwingten Schritts durch den Betrieb gelaufen war, unbeschwert, ohne diese Verantwor-tung, aufgehoben unter vielen. Nun, da ihr ihre Ein-samkeit bewusst wurde, fühlte sie die Erinnerung wie Messerstiche im Herz.

      Ach! Wenn sie morgens zur Arbeit gekommen war oder durch die Abteilungen wie Engineering, Euroey-ting, Fertigungsplanung, Einkauf oder Produktion lief und die Mitarbeiter begrüßte, wie freundlich hatten die ihren Gruß erwidert! Egal, ob sie sich gerade ge-schäftlich oder privat mit Kunden oder miteinander unterhielten, ob sie in Arbeit vertieft waren oder sonstwie beschäftigt! So laut hatten alle gegrüßt, als würden sie sich gegenseitig übertönen wollen, und sie machten eine ehrerbietige Bewegung und drehten sich zu ihr um, und wenn sie vorbei war, hatten sie ihr noch lange nachgeschaut. Sie erinnerte an all das, als sei es gestern gewesen, und diese Erinnerung tat ihr weh.

      Jetzt war sie Mitte fünfzig. Wie schnell waren die Jahre vergangen! Sie waren verflogen. Wo ist die Zeit geblieben? Fast hätte sie die Frage laut gesprochen. Außer Arbeit hatte sie fast nichts erlebt. Dennoch hatten die Jahre ihre Spuren deutlich hinterlassen. Die Haare waren weiß und kürzer geworden. Das Gesicht hatte zwar seine Form behalten, aber es war gezeich-net von dem Erlebten und vom Altwerden. Form und Haltung des ganzen Körpers hatten sich geändert. War ihre Schönheit früher jedem sofort ins Auge gefallen, so glühte sie jetzt unter den Zeichen des Alterns glei-chermaßen nach. Unverändert blieben nur ihre ge-pflegte Erscheinung und die seriös-distanzierte Aus-strahlung.

      Bis zu ihrem letzten Arbeitstag vor dem Urlaubsantritt und der darauf folgenden Erkrankung war sie motiviert und pflichtbewusst, behielt jedoch stets ihren kri-tischen Blick; auch ihren Willen zur Vollkommenheit hatte sie darüber nicht verloren. Bevor sie etwas zur Unterschrift vorlegte, prüfte sie alles — auch die Zuarbeit von Brás — eingehend, sodass die Arbeitser-gebnisse bis zu ihrem letzten Arbeitstag fehlerfrei waren. Auch sorgte sie immer dafür, dass die Vor-schriften zu den Arbeitsabläufen strikt beachtet und Termine genau eingehalten wurden, auch wenn dies ihr enorme Kraft und Anstrengungen abverlangte. Die Zuständigkeit für den Abschluss der Arbeitsverträge und der Betriebsvereinbarungen hatte sie sich vor-behalten. Auch pflegte sie bis zuletzt die Kontakte zu Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Hochschulen und anderen Institutionen; sie selbst hatte sie früher aufgebaut. Alles andere aber delegierte sie an Mani Brás, seit sie ihn, nach der Eigenkündigung ihrer dama-ligen Sekretärin, zu sich geholt hatte.

      Die Firma war der Inhalt und der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen! Kontakte hatte sie nicht gepflegt, bis auf eine Ausnahme (eine Freundin) waren die weni-gen Freundschaften im Laufe der Zeit verloren gegan-gen. Das übrige Leben mit all seinen Möglichkeiten, seiner Vielfältigkeit und Buntheit blieb vor den Toren der Firma, beschränkt auf den Inhalt der Arbeit und ihre unmittelbaren Auswirkungen. Hier, bei der Arbeit, verbrachte sie die meiste Zeit, fand sie Anerkennung und Respekt, wenn auch auf das Firmengelände begrenzt, es sei denn, sie traf durch Zufall einen Mitarbeiter draußen, außerhalb der Firma. Wer immer jetzt auf sie traf, in der Straßenbahn oder beim Einkau-fen, fand sie wie üblich gepflegt, in kerzengerader Haltung und mit der bekannt stolzen Miene. Doch hinter diesem Verhalten verbarg sich nicht mehr das Bewusstsein, das sie im Betrieb gehabt hatte, sondern eine tiefe Unsicherheit,