Metin Buz

Wer hat Gerlinde Bauer getötet?


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erforderte.

      Wieder wirkte er unsicher, er war sichtlich aufgeregt. Aber er wollte sich diese Chance nicht entgehen las-sen. Sein Ehrgeiz und das Wissen, dass in ihm noch mehr Potential stecken würde, schenkten ihm schließ-lich die Kraft, die er brauchte. Schultheiß übertrug ihm zunächst einfache Arbeiten wie Tages- und Monats-berichte. Er erstellte Statistiken über die Anzahl der Mitarbeiter in den jeweiligen Bereichen, Personalbe-wegungen, Eintritte und Austritte, Tabellen über krankheitsbedingte Abwesenheiten, Fluktuation und Ausbildungsstand der Mitarbeiter. Dann verfasste er Bescheinigungen für Mitarbeiter, Briefe, Er- und Ab-mahnungen und die ersten Arbeitszeugnisse. Seine Chefin korrigierte seine Arbeit, erläuterte ihm, worauf er achten soll, und lobte ihn schließlich trotz vieler Fehler. Danach führte er Gespräche über angezeigtes Fehlverhalten und Gespräche mit Mitarbeitern nach der Rückkehr aus der Krankheit. Schultheiß hörte sich diese Gespräche von ihrem Büro im Nebenzimmer aus an, ohne sich einzumischen. Anschließend kam sie he-raus, sagte ihm seine starken und seine schwachen Seiten und wies ihn ein, wie er Gespräch führen solle. Schließlich nahm sie ihn mit zu Vorstellungsgesprä-chen. Bald ließ sie ihn die Arbeitsverträge verfassen. Später übertrug sie ihm die Leistungsbeurteilungen der tariflichen Mitarbeiter und arbeitete ihn in die Beurteilung der außertariflichen Angestellten ein. Sie lobte seine Arbeitsergebnisse und zeigte ihm seine Fehler und Schwächen. Er war sehr motiviert. Mit jeder Aufgabe, die er bewältigte, mit jeder Erweiterung sei-nes Arbeitsbereiches wurde er entspannter, fröhlicher und einsatzfreudiger. Autodidaktisch erweiterte er seine Computerkenntnisse, studierte den Manteltarif-vertrag und erstellte für sich eine Tabelle aus den wich-tigsten Paragraphen. Die Fragen der Führungskräfte und der Mitarbeiter konnte er jetzt leichter beant-worten, auf die Vorschriften hinweisen, Möglichkeiten aufzeigen. Dies alles beeindruckte seine Vorgesetzte sehr, die ihn immer förderte. Sie ermöglichte ihm, dass er die Fachausbildung zum Personalfachmann besuch-te, die er erfolgreich und mit gutem Ergebnis absol-vierte. Es wurden ihm weitere Aufgaben übertragen. Personalentwicklung und -betreuung wurden Schwer-punkte seiner Arbeit. Er trainierte alle außertariflichen Mitarbeiter in dem elektronischen System zur Planung der Nachfolgerentwicklung, das im Konzern neu eingeführt worden war. Es war sehr kompliziert, schwer verständlich und in noch kaum einer Nieder-lassung umgesetzt. Daneben behielt er seine bisheri-gen Aufgaben. So lernte er in kurzer Zeit das ganze Spektrum der Personalarbeit kennen und umsetzen, Verhandlungen mit dem Betriebsrat eingeschlossen. Regelmäßig und aufmerksam verfolgte er die Ge-setzesänderungen, die wirtschaftlichen Entwicklungen und das politische Geschehen.

      Schon bald beeindruckte er seine Gesprächspartner mit seinem Wissen. Er wurde immer selbstbewusster. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung blieb seinen Vorgesetzten nicht verborgen. Zunächst versuchte sie, ihn immer wieder im Zaum zu halten, seine sprudelnde Energie zu bändigen. Doch später fragten sie ihn bei jeder bevorstehenden Entscheidung nach seiner Mei-nung, und wenn sie nicht zu einem Ergebnis kamen, bat sie ihn, sich darüber Gedanken zu machen und diese dann niederzuschreiben. Immer öfter hatte sie dann seine Ideen eins zu eins übernommen und bei der Geschäftsführung oder Betriebsrat präsentierte sie sie oft mit Erfolg, ab und zu auch mit geringfügigen Kor-rekturen, die sie dann gemeinsam bearbeiteten. Im-mer mehr zog sie sich vom Tagesgeschäft zurück und überließ es Brás. Sie führte nur noch die Vorstellungs-gespräche, pflegte die Außenkontakte und war Ansprechpartnerin der Geschäftsleitung und des Betriebsrates.

      Doch er hatte auch Schwächen. Seine manchmal über-trieben wirkende Freundlichkeit und Offenheit konnte er trotz seiner Erfolge und seines gewachsenen Selbst-bewusstseins nicht ablegen. Manche interpretierten sein Verhalten als Schwäche oder fehlendes Selbst-wertgefühl. Insbesondere die ausländerfeindlichen Kollegen oder die, die Autorität, die Unfreundlichkeit und Distanz als Charakterstärke und als Zeichen einer starken Persönlichkeit verstanden, betrachteten ihn aus ihrer unverrückbar eindimensionalen Sicht; sie lie-ßen entsprechende Bemerkungen fallen, auch in seiner Anwesenheit. Er würde schauspielern, mit seiner Scheißfreundlichkeit wolle er bestimmt etwas erschlei-chen. Ein Nicht-West-Europäer könne unmöglich so gebildet und freundlich sein. Da stimme etwas nicht! Insbesondere die Juristin, Myriam Kohler, und der Produktionsleiter, Walter Steinbach, äußerten sich häufig in seinem Beisein, ihm gegenüber oder in den Gesprächen mit der Personalleitung sehr abfällig über die Ausländer, insbesondere über die Türken. Für die Beiden waren die Ausländer, vor allem die Türken, der Quell allen Übels; sie waren die Ursache der Wirt-schaftskrise ab Mitte der neunziger Jahre, der steigen-den Kriminalität im Lande, der Erstarkung der radi-kalen Gruppen, des Auftragsrückgangs, der Unruhe im Betrieb, sogar die Ursache der Einsamkeit von Kohler, die Mitte dreißig war, keinen Freund hatte und noch bei ihren Eltern lebte. Ihr Vater, pensionierter Staats-anwalt in Villbeck, hatte ihr, seiner Tochter, Volljuristin, mit auf den Weg gegeben, dass sie den Menschen niemals vertrauen sollte. Menschen seien böse von Natur; sie solle sich nicht wundern, wenn jemand et-was Böses tue. Im Gegenteil solle sie sich wundern, wenn jemand eine gute Tat erbringe. Dieser Lebens-philosophie folgte sie.

      Eines Tages wurde sie tot in ihrem Wagen auf dem Fir-menparkplatz aufgefunden. Walter Steinbach ging in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in den Ruhe- stand. Seitdem wurden keine Diebstähle mehr verzeichnet, es gab keine Streitereien mehr zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien in der Firma. Die Qualitäts-mängel wurden geringer. Auch die Krankheitsrate sank.

      Brás ärgerte sich sehr über die provokativen Gesprä-che, aber traute sich nie, seine Meinung dazu zu sagen, obwohl er die Hintergründe der Emigration und die so-ziologischen Gründe des Verhaltens der Einheimischen und der Emigranten sehr gut verstand. Er schluckte alles. Er schluckte es wie ein Gift, das langsam, aber sicher wirkt. Doch es gab viele nette und freundliche Kollegen, die ihn schätzten, die ihn unterstützten, die ein Gegengift waren. Sein positives Menschenbild änderte sich nicht, auch wenn die Erlebnisse nicht spurlos an ihm vorübergingen. Er wusste nun, dass der Erfolg viele Neider hat. Er wusste aber auch, dass er keine höhere Position anstreben wollte. Denn der Umgang mit unliebsamen Mitarbeitern, mit den Men-schen aus der unteren betrieblichen Hierarchie schock-te ihn, zerstörte seine Illusionen von der Arbeitswelt. Er ärgerte sich sehr über die Menschen, die von einer Rolle in die andere schlüpften, wenn es darum ging, andere Kollegen anzuschwärzen, sich von Mitarbeitern zu trennen oder sich Vorteile zu schaffen. Diese Verhal-tensweisen nahmen nach dem Managementwechsel im Zuge der Globalisierung immer mehr zu. Die Werte hatten sich verschoben, ja, geändert. Nicht Fachwissen zählte, sondern die elastischen, nicht definierbaren Charakterzüge, bei höheren Positionen kombiniert mit der Einstellung zum Profit. Nicht Praxis und Erfahrung waren wichtig, sondern jene Idee, jene Theorie, die die deutlichste Verschlankung der Arbeitsabläufe und den höchsten Gewinn versprach. Nicht das Beherrschen des Aufgabengebietes zählte, sondern die Reaktion auf die jeweilige Situation. Nicht die Prinzipien der Menschenführung, sondern die Eigenprofilierung do-minierte. Werte wie Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Spar-samkeit, Ordnung und der Respekt füreinander siechten dahin wie eine Flamme in nasskalter Nacht. Brás durfte gar nicht daran denken, wie sehr die Infragestellung all dessen, was für ihn wichtig war, ihn getroffen hatte. Dabei sollte er noch am eigenen Leibe erfahren, wie der Kapitalismus funktionierte, wie Ar-beitsmethoden geändert wurden, weil der Grundsatz der Profitsteigerung es so verlangte, und wie heftig die industrialisierte Gesellschaft sich auf die zwischen-menschlichen Beziehungen der Mitarbeiter auswirkte.

      Dies alles hinterließ seine Spuren bei Brás. Auf welche Art man seine Vorgesetzte entlassen hatte und wie man bei der Massenentlassung vorgegangen war, hatte ihm zwar die Augen geöffnet. Auch das ganze Verhalten Bergsteins, der diese Kultur der Kulturlos-igkeit eingeführt hatte, erschütterte sein Menschen-bild. Doch diese Werteverschiebung übersah er, oder er wollte sie zunächst nicht sehen oder wahrhaben, weil sein neuer Chef, Bergstein, ihn gelobt hatte, da-mals, in einem Gespräch nach den reibungslos verlau-fenen Entlassungen, und ihm gesagt hatte, er, Brás, habe in der Krisenzeit gezeigt, wie fleißig und enga-giert er arbeiten würde. Schließlich hatte Bergstein ihm zugesichert, dass er einen sicheren Arbeitsplatz hätte, und die Firma nicht beabsichtige, ihn zu ent-lassen.

      Und Barz glaubte daran!

      Das manipulierte Verhalten, die manipulierte Einstel-lung der Menschen, er durchschaute all das und er wusste, es waren Welten zwischen ihm und dem Le-ben im Kapitalismus, wo noch das kleinste Detail vor-gegeben, vorgeschrieben und fremdbestimmt ist. Und dann die Selbstherrlichkeit