Metin Buz

Wer hat Gerlinde Bauer getötet?


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OP-Termin in der Schweiz wurde sie in den Betrieb bestellt. Sie hätte unter Verweis auf ihren Gesundheitszustand zuhause bleiben können, doch obwohl sie ahnte, was ihr bevorstand, kniff sie auch dieses Mal nicht und ging hin.

      Als sie die Eingangstür aus schwerem Glas von drau-ßen schloss, war sie ihre Stelle los. Es war ein kurzes Gespräch gewesen, kurz und einseitig. Ihr fehlte die Kraft, und sie hatte sich nicht gewehrt gegen das, was man ihr antrug, ‚Die einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses‘. Und so stand sie plötzlich, schwer krank, ohne Lebenspartner, ohne Arbeit da. Sie war jetzt allein mit ihrer Angst, ihren Sorgen und einer neuen Lebenssituation, mutterseelenallein. Auch vom Betrieb hatte sich niemand gemeldet, nur der ehe-malige Betriebsratsvorsitzende und der alte Produk-tionsleiter, beide waren inzwischen im Ruhestand, hatten ihr alles Gute gewünscht. Einsam, ängstlich und verwirrt wartete sie auf die Operation.

      3

      Das erste Mal seit Wochen kam Schultheiß wieder ins Büro. Sie hatte abgenommen. Ihr Gesicht schien da-durch noch dünner und blasser. Der Glanz in ihren Augen war erloschen, sie lagen noch tiefer und schie-nen fast farblos. Ihre ganze Erscheinung wirkte hinfällig wie ein fahler Schatten.

      Sie hatte nur ihre Handtasche bei sich. Sie stellte sie auf den Tisch, prüfte zunächst mit einem Blick die auf dem Tisch liegenden wenigen Sachen, lose Blätter, ein Schreiben vom Arbeitgeberverband, ein eingetrock-netes Schreibset, irgendwelche Werbemittel der Fir-ma, ein gerahmtes Bild ihres Hundes und eine Gene-sungskarte des Betriebsrates. Dann blickte sie auf die Dinge, die auf den Aktenschränken standen, vom Schreibtisch aus an der linken Wand. Das waren meist exotische Sachen, die sie dort aufgestellt hatte: etwa Souvenirs, die ihr die Mitarbeiter aus dem Urlaub in fernen Ländern mitgebracht hatten, oder kleine Ge-schenke von Unternehmensberatern, Zeitarbeitsfir-men und Aus- und Weiterbildungsinstituten. Hinter ihrem Stuhl, zwischen zwei Fenstern, hing die Urkunde über ihre Ernennung zur ehrenamtlichen Richterin. An die rechte Wand hatte sie ein großes Ölgemälde gehängt, eine liegende Nackte in hellem Grau vor etwas dunklerem Hintergrund, das Geschenk eines malerisch begabten kroatischen Mitarbeiters, dessen Bilder die kahlen Wände vieler Büros freundlicher machten. Schultheiß mochte das Bild sehr. Kaum ein Besucher, der das Bild nicht wahrgenommen und dann seine Bemerkungen dazu gemacht hätte. Sie selbst verband viele Erinnerungen mit damit. Während sie das Bild anschaute und sich in der Vergangenheit verlor, stand sie auf. Sie schritt zum Fenster, hielt inne und schaute reglos hinunter in den Hof. Jeder Blick war so voll von Erlebtem und Erinnertem, so voll von Empfindung und Gefühl, dass die Flut der Bilder, die mit einem Mal auf sie niederprasselten, ihr beinahe den Atem raubte.

      Mani Brás klopfte an die halboffene Tür und trat ein, ohne auf Antwort zu warten: "Guten Morgen Frau Schultheiß, mein herzliches Beileid noch mal. Wie geht es Ihnen?"

      "Danke. Wie soll es mir gehen? Sie wissen ja, was alles passiert ist."

      "Haben Sie sich denn alles gut überlegt? Wollen Sie wirklich aufhören?"

      "Es hat keinen Sinn mehr! Sie wissen, mir steht eine große Operation bevor. Und mit diesem Typen kann ich unmöglich zusammenarbeiten. Er ist chaotisch und konzeptionslos."

      "Trotzdem sollten Sie nicht alles aufgeben. Insbeson-dere nach dem Verlust Ihres Lebenspartners und kurz vor einer bevorstehenden Operation sollten Sie nicht eine solch vorschnelle Entscheidung treffen."

      "Sie haben ja recht, aber es hat wirklich keinen Sinn mehr. Sie wissen, wie schwer die Operation ist. Wann und ob ich überhaupt wiederkomme, weiß ich nicht. Und außerdem: Sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, welch eine Unverschämtheit sich dieser blöde Bergstein geleistet hat. Er ruft mich auf meinem Handy an, zwei Tage nach dem Tod meines Lebenspartners, und sagt mir sein herzliches Beileid. Und fügt an, dass ich die Trauerzeit bloß dazu nutzen sollte, über die Beendigung meines Arbeitsverhältnisses nachzuden-ken. Ich wusste, dass wir beide, Sie und ich, auf der Liste stehen, dass die Personalabteilung im Zuge der Globalisierung neu besetzt werden sollte, weil wir angeblich nach den alten Methoden, was immer das auch heißt, arbeiten würden. Nun gut. Aber trotzdem empfand ich sein Verhalten als unglaublich takt- und gefühllos. Er redete mit mir, als ginge es um irgendeine Belanglosigkeit, ums Wetter, Fußball oder so. Glauben Sie mir: Ich habe so viele Geschäftsführer, Führungs-kräfte, Manager und Personalleiter kommen und ge-hen sehen, aber so einen gefühl- und charakterlosen Typen wie diesen Bergstein habe ich noch nicht erlebt. Noch nie! Nein, es ist unmöglich, mit so einem zusam-menzuarbeiten. In meinem Alter, mit 55, kann ich einen solchen Unmenschen wie den als Chef nicht akzeptieren!"

      Ihre Stimme hatte anfangs eintönig und matt geklun-gen. Im Verlaufe ihres Monologs aber wuchs ihre Kraft. Schultheiß wirkte nun zunehmend lebhafter, schließ-lich geradezu entschlossen. Sie bog den Rücken durch, hob den Kopf, öffnete energisch den Mund und sprach mit unüberhörbarer Bitternis, ganz wie jemand, der vieles loszuwerden hat. Dann aber erhob sie die rechte Hand, machte mit den Fingern eine Bewegung nach unten, schüttelte den Kopf, als wolle sie sagen, „Las-sen wir es, es bringt sowieso nichts!“ und schaute stattdessen auf die Uhr:

      "Wo ist er denn? Wir waren um zehn verabredet. Es ist schon halb elf."

      "Er hat mich den Aufhebungsvertrag schreiben lassen und selbst schon unterschrieben. Er sagte mir, ich solle das mit Ihnen machen, er müsse dringend nach Bra-tislava."

      Sie überflog den Vertragstext, ein paar Zettel, mit deren Unterzeichnung ihr 31-jähriges Arbeitsverhältnis zum Ende des Monats Oktober einvernehmlich been-det würde, und holte den Füller aus ihrer Handtasche. Da sprang Brás auf, ergriff ihren Arm und hielt ihn fest.

      "Tun Sie nichts Unüberlegtes, Frau Schultheiß! Lassen Sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen!"

      "Ach, Herr Brás! Danke für Ihre Sorge. Aber meine Ent-scheidung ist längst gefallen. Schauen Sie sich doch die Situation an: Der neue Geschäftsführer, mit dem ich mich eigentlich recht gut verstanden habe, ist auf Bergsteins Linie eingeschwenkt. Über den heutigen Termin ist er bestimmt informiert. Trotzdem kommt er nicht mal von seinem Büro herunter, um „Auf Wieder-sehen“ zu sagen. Und der feige Bergstein selbst muss-te angeblich nach Bratislava. Nach einunddreißig Jahren werde ich so verabschiedet! Nein danke, kein Interesse mehr an diesem Laden!"

      Sie nahm den Füllhalter und unterzeichnete. Die für sie bestimmte Ausfertigung steckte sie in ihre Tasche. Dann verließ sie das Büro, kerzengerade, doch mit tief gesenktem Kopf, ohne Brás und den Raum noch ein-mal eines Blickes zu würdigen. In unveränderter Hal-tung schritt sie durch den verwinkelten und dunklen Flur. Obwohl sie nichts als den Boden ansah, wusste sie, wie die anderen reagierten. Sie spürte, dass die Kolleginnen und Kollegen sich in ihren Löchern ver-krochen hatten; manche schauten wohl scheu durch offene Türen. Entweder hatten sie Angst um ihren eigenen Arbeitsplatz oder sie wussten nicht, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten sollten. So verfolgten sie das Bild der das Betriebsgebäude ver-lassenden Schultheiß mit unsicher fragender, schüch-terner Miene. Sie aber wusste genau: Keiner traute sich, sie anzusprechen. Im Hof angekommen, fühlte sie unzählige Augenpaare hinter den Fensterscheiben auf sich gerichtet, spürte, wie viele Blicke an ihr hafteten — und wie einsam und verlassen sie war. Doch sie drehte sich nicht mehr um, um die Neugierigen nicht in Verlegenheit zu bringen und auch, um sich nicht noch mehr wehzutun.

      Kaum hatte sie das Betriebsgelände verlassen, schlug die Erinnerung zu. Das Erlebte wurde lebendig, das im Gedächtnis Gespeicherte lief vor ihrem inneren Auge ab wie ein Film, ein Film, der auch schöne Momente enthielt und ihr zuweilen sogar ein Lächeln ins ernste Gesicht zaubern konnte.

      An der Ecke vor dem Überqueren der Straße wandte sie sich kurz um. Sie sah sich, wie sie vor 31 Jahren zum ersten Mal durch das Tor, das sie gerade verlassen hatte, hereinkam, als wäre es eben, und sie stünde daneben und beobachte sich. Damals, das war ein rei-ner Zufall, sie war zu Fuß unterwegs gewesen von Bischofsheim, wo sie nach der Scheidung eine Zwei-zimmer-Wohnung gemietet hatte, zur Kirmes am Rast-weg. Damals ging sie, wie von einem siebten Sinn gesteuert, in die Bernhausener Landstraße, zum Per-sonalbüro der dortigen Automobilzulieferfirma, Sparte PKW-Innenausstattung. Nach kurzen Gesprächen, zuerst mit der Personalleiterin, dann mit dem Ge-schäftsführer, erhielt sie die mündliche Zusage (und das, sie fasste es selbst kaum!, ohne Vorlage jeglicher Bewerbungsunterlagen,