Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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– wie leicht konnten sich offene Haare sonst um die Spindeln winden. Und wie leicht konnte sich ein im hastigen Hin- und Herlaufen fliegender Zopf im Treibriemen der nächststehenden Maschine verfangen, von der Clara nur der schmale Gang trennte! Wer von so einem Riemen erfasst wurde, der wurde mit unwiderstehlicher Macht in die Höhe gerissen und gegen die Decke geschleudert, und wenn er dann wieder herabfiel, blieb kein Knochen heil. Vor Jahren war ein junges Mädchen so zu Tode gekommen, aus sträflichem Leichtsinn, erklärten die Aufseher, die jeder neu in die Spinnerei eintretenden Arbeiterin warnend davon erzählten, damit sie sich in Acht nahmen. Dieser Treibriemen und der vielen ungeschützt sich drehenden Maschinenteile wegen war es ebenfalls Vorschrift, die Schürze über dem Rock mit doppelter Schleife in Kniehöhe fest zurückzubinden, damit kein wehender Rock und kein Schürzenzipfel in die Maschine geriet. Durch diese Art der Kleidung wurde es Clara noch heißer, als es ohnehin schon war.

      Ein Schweißfilm stand ihr auf der Stirn und verklebte dort mit dem Staub der in der Luft schwebenden feinen Wollhärchen und des Abriebs der Lederriemen. Schweiß rann ihr in Rinnsalen den Rücken und die Seiten hinunter. Es war heiß und feucht in der Halle, die Luft war geschwängert von Wasserdampf, wie die Wolle es mochte. Die Ofenhitze mischte sich mit der Maschinenwärme und den Ausdünstungen der Wolle und der Arbeitenden, und zu allem Überfluss schien auch noch die Wintersonne tief in die Halle herein. Wie der wirbelnde Staub in ihren Strahlen tanzte! Kaum sah man hindurch.

      Gern wäre Clara zu einem der großen Fenster gelaufen und hätte es aufgerissen, den Kopf kurz in die klare Winterluft gesteckt. Aber das Öffnen der Fenster wie das Unterbrechen der Arbeit war durch die Fabrikordnung untersagt – wie so vieles, was gutgetan hätte. Ob die Arbeiterinnen unter der unnatürlichen Schwüle im Raum litten, was spielte das für eine Rolle, wenn nur die Wolle die feuchte Wärme hatte, die sie brauchte, wenn nur die Fäden nicht rissen!

      »Diese Hitze!«, rief Franz ihr über das Maschinengetöse zu, als sie wieder neben ihm zu stehen kam. Er blies scherzhaft die Backen auf, wischte sich theatralisch mit dem Handrücken die Stirn und schlenkerte die Hand, als würde er die Schweißtropfen abschütteln.

      Sie lachte. »Das kannst du laut sagen! Ich komme um vor Durst.« Sie achtete darauf, dass sie dem Aufseher den Rücken zuwandte, damit dieser nicht sah, dass sie sich mit Franz unterhielt. Privatgespräche während der Arbeit waren verboten, aber bei dem Lärm konnte der Aufseher sie nicht hören.

      »Wären wir Orchideen, wir würden hier drinnen gedeihen, bei dem Treibhausklima, das wär eine reine Pracht!«, rief er zur Antwort und grinste ihr zu.

      »Aber so gehen wir ein wie die Primeln«, rief sie zurück und freute sich, dass sie eine so gute Entgegnung gefunden hatte.

      »Bist ja das reinste Blumenfräulein!« Wieder grinste er, dann beugte er sich tief über den Maschinenblock und justierte eine Schraube.

      Blumenfräulein. Das war ein Kompliment, oder? Franzens Eltern hatten früher in einer Gärtnerei im Westen Berlins gearbeitet, als Kind hatte er mit ihnen in der Gärtnerei gewohnt und Gärtner werden wollen. Aber dann hatte die Gärtnerei geschlossen, weil das Grundstück zu Bauland geworden war. So war Franz in eine Spinnerei gegangen und hatte sich zum Maschinenführer hochgearbeitet, er hatte es erzählt, als Olga ihn gefragt hatte. Olga unterhielt sich mit jedem, der ihr gefiel, da kannte die nichts.

      Olga hatte ihren Platz auf der rechten Seite von Franz, an der anderen Hälfte der Spinnmaschine. Und natürlich trug sie ihr Hemd am Halsausschnitt wieder offen und so weit, dass es ihr über die Schulter glitt und wer weiß was sehen ließ.

      Links außen war der Faden gerissen. Rasch tat Clara ihre Pflicht. Als sie kurz wieder zu Franz sah, hantierte er mit der Ölkanne. Musste nicht rechts ein Garnkörper auf der Spindel höher geschoben werden, um die richtige Aufwicklung zu erhalten – dort dicht neben Franz? Sie eilte hinüber. Da trat ihr nackter Fuß auf einen öligen Fleck, sie rutschte aus, schrie auf, ruderte wild mit den Händen in der Luft, kam den Zahnrädern der nächsten Maschine bedenklich nahe, dann fiel sie und schlitterte an Franz vorbei so weit über den glitschigen Boden, dass sie Olga zwischen die Beine segelte. »So pass doch auf!«, schrie diese auf, kämpfte vergebens um ihr Gleichgewicht und stürzte schließlich über Clara.

      Einen Augenblick lagen sie beide benommen am Boden. Clara schloss die Augen. Trotz des Schrecks und des dumpfen Schmerzes durch den Aufprall genoss sie beinahe den Moment des Liegens. Endlich eine unverhoffte Pause.

      »Na, die holde Weiblichkeit mir zu Füßen, das lass ich mir gefallen!«, rief Franz mit breitem Lachen.

      »Das könnte dir so passen!«, entgegnete Olga, streckte ihm die Zunge heraus und rappelte sich auf die Knie. »Hilf mir lieber beim Aufstehen!«

      Franz hielt Olga mit fettem Grinsen die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Olga nahm die Hand, aber einen endlosen Augenblick verharrte sie vor ihm auf den Knien, viel weiter vorgebeugt als nötig. Sein Blick blieb in ihrem Ausschnitt hängen. Und an seinem Gesicht sah man, dass dieser Blick tief reichte, wahrscheinlich bis zum Bauchnabel. Oder doch eher weiter oben hängen blieb. Dann endlich zog Franz Olga hoch und gab ihr einen derben Klaps auf den Hintern. Olga kreischte auf. Aber die Hand, die auf ihrem Hinterteil liegen geblieben war und sich dort unverkennbar wohlfühlte, schüttelte Olga nicht ab.

      Rasch sah Clara weg und stand auf. Mit einem kurzen Blick zum Aufseher hin, der auf die Szene aufmerksam geworden war und bereits näher kam, eilte sie an ihren Platz zurück.

      »Da hab ich wohl Öl verschüttet«, meinte Franz. »Ich mach's auch wieder gut an den gefallenen Mädchen. Heut Abend auf dem Heimweg spendier ich euch in der Bierhalle eine erstklassige Berliner Weiße!«

      Eine Berliner Weiße von Franz. Eben noch hätte sie sich nichts Besseres vorstellen können. Aber nicht mit dieser Olga gemeinsam, so, wie die sich aufführte! »Wie du dir das vorstellst«, rief sie abwehrend. »Daheim warten sie auf mich.«

      Franz machte nicht den Eindruck, als täte ihm die Abfuhr leid. Er hatte nur noch Augen für Olga. Was die sagte, konnte Clara nicht verstehen. Aber dass es eine Zustimmung war, das sah sie.

      »Und wenn du meinetwegen noch mal fällst, dann hab ich nichts dagegen, du weißt schon, wie ich's meine«, rief Franz Olga zu und lachte anzüglich.

      »Bevor ich deinetwegen fallen würde, müsste es bei dir erst mal ordentlich stehen«, gab die zurück.

      Clara wandte sich ab. Sie hatte genug.

      Zornig beugte sie sich über die Spindeln. Fünf Fäden waren gerissen, aber nicht alle hingen mehr lose herab, dort, dort und dort hatten sie sich mit den Nachbarfäden verbunden. Doppelfäden waren es nun, die von den einen Spindeln aufgewickelt wurden, während die anderen sich leer drehten. Wenn der Aufseher das merkte – eine Katastrophe! Garnkörper mit Doppelfäden waren Ausschussware, dafür würde sie Lohnabzug bekommen. Hastig riss sie die Doppelfäden durch, versuchte sie wieder an den beiden richtigen Spindeln anzulegen, nur schnell, schnell, damit es nicht auffiel! Doch da drüben bildeten sich Schlingen, wie sollte sie das verhindern, sie konnte nicht überall zugleich sein. Die ein, zwei Minuten, die sie durch den Sturz verloren hatte, ließen sich nicht einholen, pflanzten sich als Fehler fort.

      Dann stand der Aufseher neben ihr. Mit einem Blick erfasste er die Situation. »Doppelfäden!«, blaffte er sie an. »Und dann auch noch einfach drüberspulen, als wäre nichts! Das ist der Gipfel! Ist dir überhaupt klar, was du hier produzierst? Die Weberei reklamiert dann, dass wir schlechtes Kammgarn liefern, und der Ruf unserer Spinnerei ist ruiniert. Ein Viertel Abzug!«

      Ein Viertel Tageslohn Abzug! Zweidreiviertel Stunden umsonst geschwitzt, umsonst sich geschunden

      Clara presste die Zähne zusammen. Nur ja nichts sagen. Wenn sie sich jetzt rechtfertigte, dass sie nichts dafür könne, weil sie ausgerutscht sei, dann bekam sie wegen Aufsässigkeit noch einen Abzug dazu.

      Früher, beim alten Fabrikherrn, war es anders gewesen, da hatte ein menschlicherer Ton geherrscht. Da hätte sie nicht versucht, einen Fehler zu vertuschen, weil die Aufseher auch mal ein Auge zugedrückt hätten, wenn man an einer Panne wirklich nicht schuld war. Aber seit der Sohn die Firma übernommen und neue Aufseher eingestellt hatte,