Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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wohl die Polente hinter dir her?«, fragte ein Junge und grinste mitfühlend. Die anderen Kinder lachten. Es war ein nettes Lachen.

      Willig führte der Junge sie durch dunkle Flure, finstere Winkel und enge Höfe, vorbei an stinkenden Latrinen und wirren Haufen von Gerümpel. In einer Ecke lallte ein Betrunkener, eine Frauenstimme zeterte hinter blinden Fensterscheiben, lautes Fluchen antwortete ihr, irgendwo schrie sich ein Baby die Seele aus dem Leib.

      »Na, was krieg ich dafür?«, fragte der Junge und wies auf ein offenes Tor, hinter dem man eine schmale Gasse sah, die den Blick frei gab auf den Molken-Markt. Ein Pferdeomnibus ratterte über den Platz.

      »Danke!«, erwiderte Clara. »Aber geben kann ich dir nichts. Ich hab nichts.«

      Der Junge nickte und grinste. »Hab ich mir schon gedacht. Wie du aussiehst.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu: »Lass dich nicht erwischen!« Damit verschwand er.

      Es war ruhig auf der Straße. Als würde nicht ein paar Meter weiter Aufruhr herrschen und vielleicht sogar Kampf.

      Clara schauderte zusammen. Die Lust auf einen freien Nachmittag in der Stadt war ihr vergangen. Heim wollte sie, nur noch heim.

      Auf der Blumenrabatte steckten schon die Schneeglöckchen und Krokusse die grünen Blattspitzen aus der Erde. Und die Christrosen blühten. Clara blieb stehen, schaute. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie liebte diese Beete im ersten Hof ihrer Mietskaserne, auf die den halben Tag die Sonne schien. Überhaupt dieser Hof mit seiner kleinen Rasenfläche und seinem von Blumenbeeten eingefassten Zierbrunnen, seinen Fliederbüschen, die im Mai so wundervoll dufteten, und seiner rosenumrankten Laube, in der die Herrschaften im Sommer Tee tranken und die beiden alten Damen aus dem dritten Stock des Vorderhauses ihre Stickereien anfertigten. Einmal nur für eine Stunde in dieser Rosenlaube sitzen dürfen!

      Aber der Aufenthalt im Garten war nur den Herrschaften aus dem Vorderhaus gestattet, so stand es auf dem Schild im Eingang unter dem stillen Portier – der Tafel, die die Bewohner des Vorderhauses aufführte – gemeinsam mit all den anderen Verboten, die das Herumstehen, das Rufen und laute Reden in den Treppenhäusern und Tordurchfahrten untersagten und das Spielen in den Höfen und überhaupt alles, was Freude machte. Die alte Frau Riefke, die Mutter des Hauswarts, hatte ihren Lehnstuhl am Fenster der Hauswartswohnung im Erdgeschoss rechts und schaute den ganzen Tag in den Garten. Und sobald man auch nur stehen blieb, sagte sie ihrem Sohn Bescheid und schon kam Riefke gerannt und kanzelte einen ab.

      Kurz warf Clara einen Blick zu dem besagten Fenster, ob die Gardine sich schon bewegte. Da sah sie eine junge Frau mit Kinderwagen durch die Einfahrt kommen, ein Kind an der Hand, und als diese in den Hof trat, erkannte Clara, dass es ihre Freundin Jenny war. »Clara! Clara!«, rief der kleine Moritz, riss sich von seiner Mutter los und lief ihr entgegen. »Kommst du heut zu uns? Erzählst du mir wieder von Rübezahl?«

      Clara ging in die Knie, breitete die Arme aus und fing den Dreijährigen auf. »Aber sicher doch«, erwiderte sie und strich dem Kleinen die Haare aus der Stirn. Hinter dem Fenster wurde mit einem Stock an die Scheibe geklopft und gedroht. Sie erhob sich mit dem Kind auf dem Arm und nickte Jenny zu: »Gleich kommt Riefke!«

      Diese verdrehte die Augen. »Könnt ihr nicht lesen?«, äffte sie den Kasernenhofton des Hauswarts nach. »Oder muss ich erst andere Saiten aufziehen?« Sie schüttelte sich und lachte. »Riefke kann nun mal den Feldwebel nicht ablegen. Aber wir sind nicht seine Rekruten – der soll mir nur dumm kommen!« Sie warf den Kopf in den Nacken.

      Clara sah die Ältere voller Bewunderung an. Jenny ließ sich von niemandem einschüchtern. Dennoch schob sie den Kinderwagen auf dem Plattenweg rasch weiter. Erst im Dunkel der Durchfahrt zum zweiten Hof verzögerte sie ihren Schritt und fragte: »Aber warum bist du schon zu Hause? Es ist doch noch nicht einmal fünf?«

      »Wir haben Kurzarbeit«, erwiderte Clara und trat in den zweiten Hof, der ähnlich geräumig war wie der erste, doch im Gegensatz zu diesem nicht die geringste Begrünung aufwies. Nur ein bisschen vertrocknetes Unkraut zwängte sich zwischen den Fugen des Kopfsteinpflasters zu beiden Seiten des Weges hindurch. An die Mauer zum rechten Nachbargrundstück, über die das sägezahnförmige Dach und der Schornstein einer Fabrik hinausragten, drängte sich ein Schuppen, in dem eine kleine Kohlehandlung sowie der Stall und die Remise eines dürftigen Fuhrunternehmens Fuhren aller Art, schnell, billig, preiswert untergebracht waren. Daneben Mistgrube und stinkende Müllkübel, davor die Teppichklopfstange. Die Wäscheleinenpfosten standen ein Stück entfernt auf der linken Seite des Hofes vor dem Seitengebäude der Mietskaserne mit dem Abgang zur Kellerkneipe Zum unterirdischen Paule. Weiße Tafeltücher der Vorderhaus-Bewohner wehten in der Winterluft.

      Trotz seiner Kargheit und des Lärms, der von der Fabrik vom Nachbargrundstück herüberdrang, mochte Clara den zweiten Hof: Hier war es nicht so düster wie in ihrem eigenen Hof, dem dritten. Hier traf man oft auf Gesellschaft und niemand verbot einem, sich zu unterhalten. Im Augenblick freilich war sie mit der Freundin und ein paar Himmel und Hölle spielenden Kindern allein.

      »Kurzarbeit? Einfach so?« Jenny sah sie fragend an und blieb stehen.

      Clara nickte. »Uns hat keiner was erklärt.«

      »Und morgen heißt es dann, der Absatz für Wolle ist eingebrochen und ihr müsst für den halben Lohn arbeiten!«, erregte sich Jenny. »Ich kenne das, ich hab das alles schon erlebt, vor Jahren, als ich als Mantelnäherin in der Fabrik in der Spandauer Straße gearbeitet habe. Und das Garn und die Nähnadeln wollten sie uns auch noch vom Lohn abziehen. Pass bloß auf, Clara, dass es euch nicht auch so geht!«

      »Was soll man da schon machen«, antwortete Clara.

      »So darfst du nicht reden!« Jenny ereiferte sich immer mehr. »Du musst kämpfen! Wir haben es auch geschafft, damals. Wir haben uns einfach geweigert, zu so einem Schandlohn zu arbeiten. So jung ich war und so bitter angewiesen auf das bisschen Geld, ich war dabei. Mit zwei anderen gemeinsam haben mich die Arbeiterinnen als Delegation zum Unternehmer geschickt. Und der hat tatsächlich klein beigegeben. Denk immer dran: Eine Arbeiterin oder ein Arbeiter alleine ist nichts. Aber alle gemeinsam, die sind eine Macht. Du weißt doch: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will! Ach, wenn ich in eurer Fabrik wäre, dann würde ich agitieren! Ich würde schon Stimmung machen, das darfst du mir glauben!«

      »Sei froh, dass du zu Hause bist und deinen Haushalt versorgen kannst und deine Kinder, und dass du einen guten Mann hast und ein schönes Leben und dich nicht in der Fabrik schinden musst«, erwiderte Clara.

      Jenny seufzte und warf Clara einen seltsamen Blick zu, den diese nicht zu deuten wusste. »Bin ich ja auch«, erwiderte sie gedehnt. »Einerseits. Aber wenn ich …«

      »Entschuldigen Sie bitte«, wurden sie in diesem Augenblick von einer sehr kultivierten Frauenstimme angesprochen. »Dürfte ich Sie wohl um eine Auskunft bitten?«

      »Ja?« Clara wandte sich um. Eine hochgewachsene junge Dame stand da in einem halblangen Wintermantel aus edelstem Kaschmir, das erkannte Clara gleich, nicht umsonst arbeitete sie in einer Wollspinnerei und ihre Mutter vernähte schließlich die losen Fäden an Kaschmirschals. Einfach ein Traum war dieser Mantel mit seiner engen Taille, dem großen Pelzkragen und dem Pelzbesatz entlang der Vorderkante und des Saums. Darunter sah ein mit Atlasbändern und -schleifen drapierter Rock aus schwerem Samt hervor und Stiefeletten von atemberaubender Zierlichkeit. Die Hände der jungen Dame steckten in einem Pelzmuff.

      Ob es wohl Nerz war? Sie wusste nicht, wie Nerz aussah, nur, dass er besonders teuer war. Und teuer war dieser Pelz bestimmt.

      Da könnte eine Arbeiterin ihr Leben lang schuften und würde eine solche Kleidung doch nicht bezahlen können. Und in einem Geschäft für abgelegte Herrschaftskleidung gab es so etwas auch nicht zu kaufen, und wenn doch, dann war es noch immer unbezahlbar. Aber so schön …

      Clara unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen und schaute zu dem Mädchen weiter, das drei Schritte hinter der Dame in einem einfachen schwarzen Wollmantel dastand und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Offensichtlich war es das Dienstmädchen