Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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      Wie benommen tat Clara ihre Arbeit. Eben noch hatte das Anspinnen für eine neue Partie eine gewisse Abwechslung gebracht. Da musste man sich zwar beim Abnehmen und Einsortieren der aufgespulten Garnkörper, der Kötzer, beim Aufstecken frischer Papierhülsen auf die Spindeln und beim Anlegen der neuen Fäden auch beeilen, aber man konnte es wenigstens im eigenen Rhythmus machen, musste sich nicht an die Bewegung der Maschine anpassen und nicht auf dieses wirbelnde Spiel starren. Doch nun hatte sie wieder das Spinnen zu überwachen. Mechanisch erfüllten die Finger ihre Aufgaben, ganz von selbst registrierten die Augen jede Störung, unwillkürlich reagierten ihre Muskeln. Immer dasselbe. Der Lärm schien zuzunehmen, lauter und lauter zu werden. Unerträglich dröhnte er in den Ohren und wollte ihren Kopf schier zersprengen. Schultern und Rücken schmerzten, die Beine waren schwer, die Zehen taten weh. Mehr als einmal hatte sie sich diese an den auf den Boden geschraubten Eisenschienen gestoßen, auf denen der Wagen fuhr. Und noch mehr als zwei Stunden bis zum Feierabend.

      Kein Blick mehr für Franz. Nur noch dies eine: aushalten, durchhalten! Da plötzlich schepperte die Glocke. Und die Maschine stand still. Einen Augenblick wurde Clara schwarz vor Augen. Taumelnd hielt sie sich am Wagen des Selfaktors fest. Dann schaute sie zur Wanduhr: Erst vier.

      Stimmen erhoben sich, fragten nach dem Grund der Unterbrechung. Der Oberaufseher rief laut: »Schluss für heute! Der Herr Direktor hat Kurzarbeit angeordnet. Täglich neun Stunden, dabei bleibt es fürs Erste. Morgen früh wieder um sechs! Und jetzt gründlich den Arbeitsplatz aufgeräumt und reinegemacht! Vorher verlässt keiner die Fabrik.«

      »Kurzarbeit?«, gellte eine Frau, deren Augen vom Staub rot entzündet waren. »Ohne uns was zu sagen! Vier Kinder hab ich großzuziehen und mein Mann ist krank und kann nicht in die Fabrik! Kann mir einer sagen, wie ich die hungrigen Mäuler daheim stopfen soll?«

      Andere Stimmen mischten sich in den Protest, doch Clara dachte nichts als: Gott sei Dank. Für heute kann ich entkommen.

      Einer der Arbeiter forderte lautstark Aufklärung, wie lange die Kurzarbeit andauern werde, doch er wurde vom Oberaufseher abgefertigt: »Das wirst du dann schon sehen. Seit wann ist dir denn der Herr Direktor Rechenschaft schuldig? Und jetzt halt den Mund! Sonst arbeitest du morgen nur für die Strafe, die dir abgezogen wird. Das gilt für alle!«

      Das laute Schimpfen verstummte und wandelte sich in ein leises Murren. »Das können die doch mit uns nicht machen«, klagte Emmi, die an der nächsten Maschine stand, flüsternd. Ihre Stimme zitterte. »Wie soll ich denn jetzt mit dem Lohn auskommen, wo's doch so schon vorn und hinten nicht reicht!« Emmi hatte ein Kind und keinen Vater dazu.

      Clara erwiderte nichts. Kurz sah sie in das verzweifelte Gesicht der anderen, blickte rasch wieder weg. Dann kehrte sie hastig die Abfälle zusammen, säuberte die Maschine und ging, ohne auch nur noch ein einziges Wort zu wechseln. Endlich frei.

      Erst auf der engen Straße hielt sie inne und wickelte sich in ihr Umschlagtuch. Zwei geschenkte Stunden lagen vor ihr. Doch wie sie nutzen? Wenn sie nach Hause ginge, so würde sie von der Mutter in die Heimarbeit eingespannt werden. Oder sie müsste bügeln. Den ganzen Sonntag hatte sie mit der Mutter gemeinsam Wäsche gewaschen, körbeweise wartete diese darauf, geplättet zu werden. So oder so hätte sie die Schufterei in der Fabrik nur gegen die Schufterei zu Hause eingetauscht.

      Sie wandte sich zum Fabriktor um. Im Pulk der anderen sah sie Franz mit Olga herauskommen. Olga hatte sich bei ihm eingehängt und lachte zu ihm empor. Und jetzt legte er seinen Arm um ihre Hüfte und ließ die Hand unter dem Umschlagtuch verschwinden.

      Clara wandte sich ab und lief die Straße hinunter, bog um eine Ecke, verließ die übliche Route nach Hause. Vor Franz und Olga herzugehen, nein, dazu hatte sie nun wirklich keine Lust.

      Gassen, durch die sie noch niemals gegangen war, altes heruntergekommenes Gemäuer, Hoftore, die den Blick in düstere baufällige Höfe freigaben, in denen morsche Schuppen und schadhafte Holzvorbauten beinahe jeden Winkel ausfüllten, windschiefe Häuser aus längst vergessenen Jahrhunderten – Claras eingeschlagener Weg führte sie durch die ältesten Quartiere des Zentrums.

      Eine Idee bildete sich in ihr: Ums Schloss wollte sie spazieren und bei der Baustelle zuschauen, wie der neue Dom entstand, dann die Linden hinab flanieren und in der Friedrichstraße die Geschäfte ansehen und ihre Freiheit genießen. Was für ein guter Tag! Und dann kam noch der beste Abend der Woche. Heute war Donnerstag, und donnerstagabends passte sie immer auf die Kinder ihrer älteren Freundin Jenny auf, während diese in die Arbeiterinnenschule ging, und durfte zum Dank bei Jenny essen, bis sie satt war. Jenny war mit einem Eisengießer verheiratet, der gut verdiente, und deshalb gab es bei Jenny immer herrliche Sachen zu essen, oft sogar Fleisch. Bei dem bloßen Gedanken lief Clara schon das Wasser im Mund zusammen.

      Gemächlich schlenderte sie weiter, rieb dabei die Hände aneinander. Die Sonne stand schon so tief, dass die Gasse im Schatten lag. Und so wohltuend sie zunächst die Winterluft nach der stickigen Hitze der Fabrik empfunden hatte – nun wurde ihr kalt. Wenn sie einen Mantel hätte!

      Sie seufzte. Ein Wintermantel, das war der Traum, den sie seit Jahren mit sich herumtrug. In einem Mantel aus dichtem Wolltuch müsste sie nie mehr frieren. Und niemand würde ihr auf der Straße ansehen, dass sie keine Bürgertochter war, sondern nur ein Fabrikmädchen. Und am Sonntag könnte sie in der Stadt spazieren gehen und müsste nicht zu Hause sitzen bleiben, weil sie nichts Warmes anzuziehen hatte, womit man sich am Sonntag blicken lassen konnte.

      Sie hatte ja Geld. Eine Mark durfte sie jede Woche von ihrem Lohn behalten, wenn sie das verdiente Geld bei ihrer Mutter ablieferte. Davon musste sie ihre Kleidung bezahlen und alle kleinen Vergnügungen, die sie sich gönnte. Sie gönnte sich fast nie etwas, auch keine Abfallwurst oder einen Hering zu Mittag wie manche der Arbeiterinnen in der Spinnerei. So viel Geld als möglich trug sie auf die Sparkasse.

      Wenn man heiraten wollte, dann brauchte man mindestens dreihundert Mark für den allernötigsten Hausrat, hatte Jenny gesagt, darunter ging gar nichts. Jenny wusste so was. Jenny wusste überhaupt sehr viel.

      Clara bog um eine Ecke und blieb erschreckt stehen. Die Straße war überfüllt von Männern in blauen Arbeitsblusen, die mit besorgten Gesichtern schweigend auf und ab gingen oder sich in bald ernstem, bald erregtem Gespräch vor dem Tor eines schmalen Fabrikgebäudes versammelt hatten. Das Tor aber wurde bewacht von zwei finster dreinblickenden Schutzleuten. Frauen beugten sich aus den Fenstern der umliegenden Häuser und schauten neugierig auf das Geschehen.

      »Was ist hier los?«, fragte Clara eine junge Frau, die – in einer gegenüberliegenden Hofeinfahrt stehend – das Ganze beobachtete, einen kleinen Jungen am Rockschoß, ein Baby auf dem Arm.

      »Die Arbeiter der Fabrik dort streiken«, erwiderte diese. »Drechsler sind es, denen der Stücklohn um ein Drittel gekürzt worden ist. Aber das sind alles Organisierte, Genossen, die lassen sich das nicht bieten, die haben spontan zum Streik aufgerufen. Na, wenn das mal gut geht! Ich will ja nichts gesagt haben, aber …« Die Frau stockte und wies zum Ausgang der Straße, stieß einen Schrei aus. »Ich hab's ja geahnt!« Damit fasste sie nach der Hand des kleinen Jungen, drehte sich um und verschwand in der Toreinfahrt, den Kleinen hinter sich herziehend.

      Clara blickte die Straße hinunter, wohin die Frau gezeigt hatte. Sie schluckte. Berittene Polizei näherte sich von dort, immer mehr Schutzmänner auf hohen Pferden wurden es, die mitten unter die Menschen ritten und die Gruppen zertrennten. Und vom anderen Ende der Straße kamen auch welche.

      Polizei. Es war, als setze etwas in ihrem Kopf aus. Weg hier!, dachte sie nur noch, weg hier! Aber wenn sie rechts oder links die Straße hinunterlief, würde sie genau den Schutzmännern in die Arme laufen. Und vor denen fürchtete sie sich mehr, als sie sagen konnte.

      Sie verzog sich in die Toreinfahrt, ging immer weiter, kam in einen engen Hof, hörte sie nicht ein Schreien aus der Gasse? Pfiffe?

      Wie leicht konnte man in etwas hineingeraten, aus dem man nicht mehr herauskam. Aber sie konnte sich ja nicht ewig in diesem düsteren Hof verstecken. Wer konnte wissen, wie lange das da draußen noch so weiterging! Unschlüssig sah sie sich um.

      »Was suchst du denn?«, riefen ihr ein paar