Damen.
„Alles gut gelaufen, ja“, beruhigte ihn Gerhilde.
Zwei der Mönche trugen die Truhe die Anhöhe hinauf in die Kirche Sankt Georg, öffneten sie, entnahmen ihr den sehnsüchtig erwarteten Inhalt und trugen die nun leere Truhe wieder zurück zum Boot. Dann verabschiedeten sie die beiden Stiftsdamen und alle machten sich auf den jeweiligen Heimweg.
2
Am nächsten Morgen, als Cellerar Pius nach dem kranken Abt Alawich sah, der im Kloster Reichenau in seiner Zelle im Kistenbett auf einem gut gefüllten Strohsack und unter mehreren Wolldecken lag, erfuhr er eine traurige Geschichte.
„Pius, diese Nacht hatte ich einen Traum.“
„Trink erst einmal einen grossen Becher Lindenblütentee mit Honig, Alawich“, und Pius stützte den Abt, sodass dieser trinken konnte. „Und nun erzähl.“
„Ich hab einen Engel gesehen.“
„Nur einen?“, fragte Pius, der an die beiden Frauen mit der Truhe dachte.
„Ja, ja. Nur einen. Ich werde bald sterben, Pius.“
„Das ist noch nicht gesagt!“
„Doch, doch. Ich spüre es. Du musst schauen, dass die Arbeiten in der Sankt Georgskirche weitergehen.“
„Keine Sorge, ich tu mein Bestes.“
3
Furdin, Oberspion zu Konstanz, hockte in seiner grosszügigen Wohnung, rührte in einer köstlichen Hafergrütze mit Honig und teurem Zimt und war trotzdem missmutig. Konrad, der Bischof von Konstanz und Furdins Gebieter, hatte ihn mit der leidigen Aufgabe betraut, bei diesem novemberlichen Sauwetter über den welligen Bodensee auf die Insel Reichenau zu schippern beziehungsweise sich schippern zu lassen, um dort ein bisschen zu spionieren. Anscheinend war dem ollen Konrad ein Gerücht zu Ohren gekommen. Die Mönche dort wären knapp bei Kasse. Dieses Jahr. Weil angeblich zwei der Schüler der berühmten Reichenauer Malschule wieder nachhause zu ihren Eltern gegangen waren. Oder gegangen wurden? Irgendwas war dort arg faul. Und da Konrad seine Finger überall drin haben wollte und als Voraussetzung dazu über alles und jedes informiert sein musste, sollte er, Furdin, für den neugierigen Bischof herausfinden, was da im Inselkloster wirklich abging. Ob das stimmte. Das mit der Sparerei. Denn eigentlich waren die Herren dort ziemlich wohlhabend. Wenigstens noch bis vor Kurzem. Und was es mit den beiden Heimgekehrten auf sich hatte. War vielleicht doch ganz spannend. Furdin beendete sein Frühstück, schlüpfte in seinen bereits mit einer bronzenen Spange verschlossenen Wollumhang und setzte sich den breitkrempigen Filzhut auf. Kaum, dass er draussen war, prasselte der kalte Regen in grossen Tropfen auf ihn nieder und liess ihn eilenden Schrittes seinen Stadtteil, die Niederburg, durchqueren, durch eines der Tore hinauslaufen und zur Hütte des Fährmannes Wirz rutschen, wo er gegen die Türe polterte und eine Überfahrt einforderte.
„Komm herein, Junge“, öffnete der alte Wirz die Türe. „Setz dich.“
„Ich hab’s eilig.“
„Ist schon komisch. Ihr jungen Leute, die ihr alle Zeit der Welt habt, habt es immer eilig. Wohingegen wir Alten, die wir bald sterben, alles mit Musse tun.“
„Der Bischof schickt mich, Wirz. Ich persönlich wäre heute lieber zuhause geblieben.“
„Ja, ja, schon klar. Also. Gehn wir.“
Das kleine Ruderboot wurde umgedreht, ins Wasser gelassen und geentert, während der Regen fröhlich weiterprasselte. Wirz ruderte, was ihn schön warm hielt, Furdin tat nichts, was ihn völlig durchgefroren in Oberzell auf der Insel Reichenau ankommen liess. Nachdem er die Überfahrt bezahlt und sich vom Fährmann verabschiedet hatte, marschierte er zügig am Fusse des Hügels entlang, auf dem die Pilgerkirche Sankt Georg thronte, liess die abgelesenen Weinhänge, die sich bis zur höchsten Erhebung der Insel ausbreiteten, links liegen, passierte Felder, die teils abgeerntet, teils noch voller Gemüse, vor allem Lauch, Kohl und Rettich, waren und gelangte nach mehr als einer gefühlten halben Stunde - zu dieser Jahreszeit wurden die Stunden kürzer gerechnet als im Sommer - endlich nach Mittelzell und ins Kloster Reichenau.
„Furdin! Was tust denn du hier bei diesem Wetter?“, liess ihn Pförtner Genz ein.
„Ich will den entfernten Verwandten Konrads besuchen. Euren Schüler Stefan.“
„So, so. Was willst du denn von dem?“
„Ich soll ein bisschen schauen, wie es ihm so geht hier bei euch. Ob er was dazulernt.“
„Das will ich doch stark hoffen, dass der Junge hier was dazulernt. Willst du einen Becher heisse Gemüsebrühe? Du siehst ziemlich verfroren aus.“
„Ja gerne.“
„Dann komm mit ins Refektorium. Stefan kannst du später treffen.“
4
Eine Tagesreise entfernt, wenigstens für solche, die zu Fuss wanderten, löffelte Cellerar Fidibus im Gästehaus des Klosters Sankt Gallen seinen zweiten Topf Hafergrütze, während ihm gegenüber eine der Damen aus dem Stift Quedlinburg sass und an ihrem mit wenig Alkohol versetzten Morgenbier nippte.
„Die Reichenauer Mönche haben ein Problem, Fidibus, glaub es einfach“, versuchte Marie ihren alten Bekannten zu überzeugen.
„Wieso sollten die ein Problem haben?“
„Die müssen anscheinend sparen.“
„Die haben doch ihre Malschule. Die Schüler hocken da nicht gratis rum.“
„Aber zwei der Zahlenden sind nicht mehr dort.“
„Warum nicht?“
„Wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie sich dieses Jahr schon zum zweiten Mal heimlich mit dem teuren Safran, der ein schönes Goldgelb ergibt, und noch einigen anderen Farbpigmenten von uns hatten beschenken lassen.“
„Heimlich?“
„Ja. Der Lehrer der Malschule mag keine Stiftsdamen und schon gar keine, die ihm Geschenke machen.“
„Hubertus?“
„So heisst er, ja.“
Hans, einer der Novizen des Klosters, grinste auf die beiden ins Gespräch Vertieften herab und frechelte: „Na, Fidibus, willst du noch einen dritten Topf Hafergrütze? Und die Dame? Noch mehr Flüssignahrung oder etwas zu knabbern?“
„Ihr habt ja Rotzlöffel hier!“, hob die erstaunte Marie ihren Blick zum stehenden Hans empor, was ihn gleich zu einem noch breiteren Grinsen animierte, denn die Dame war ein netter Anblick.
Fidibus winkte nur ab: „Der ist halb so schlimm. Für mich einen Most, Hans.“
„Und für mich etwas Frittiergebäck und noch ein Krüglein Bier.“
Erst als der Rotzlöffel wieder weg war, sprachen sie weiter.
„Ist mir gar nicht aufgefallen“, bemerkte der Cellerar.
„Du bist ja auch ein Mann, Fidibus. Aber dieser Hubertus ist wirklich ein komischer Kauz.“
„Mich interessiert eher, was es mit den beiden Schülern auf sich hat. Kennst du ihre Namen?“
„Nein.“
„Ich könnte mal meinen alten Freund Ottfried, der im Kloster Reichenau Hospitalar ist, besuchen gehen und ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen.“
„Und bei der Gelegenheit könntest du dich um diesen Trottel Hubertus kümmern.“
„Dem könnte ich vielleicht auch ein bisschen auf den Zahn fühlen, ja.“
„Und ich bleibe solange in Sankt Gallen. Hier ist es gar nicht so leid.“