Denise Remisberger

Fidibus und der Engel von Reichenau


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nichts Böses getan. Wir waren nur ein Weilchen spazieren. Und dann haben wir einen Engel gesehen. Und Hubertus, unseren Lehrer.“

      „Und was haben die beiden getan?“, wollte Josef wissen, dessen verknackster Fuss gerade von Trude mit einer dicken Schicht Beinwellwurzel-Brei zugedeckt wurde.

      „Hubertus hat von Liebe gesprochen.“

      9

      Diese Nacht lag besagter Hubertus, Lehrer der Malschule Reichenau, in seinem einsamen Kistenbett und weinte bitterlich. Sein Engel war gerade bei ihm gewesen, doch es wollte sich einfach kein tröstliches Gefühl einstellen. Eigentlich hatte es Hubertus gut hier auf Reichenau. Er übte den Beruf aus, den er liebte, er wohnte in einer grosszügigen Zelle nur für sich alleine im selben Gebäudeteil, in dem sich auch die Malschule befand, und er wurde von allen Seiten geschätzt, nicht immer verstanden, aber geschätzt. Doch er war einsam. Manchmal, wenn die Erinnerung ganz präsent wurde, fühlte er sich völlig verlassen. Die Erinnerung war schön. So schön. Und sie tat so weh.

      10

      „Da bist du ja“, setzte sich Kräuterfrau Trude zu Cellerar Fidibus an den Tisch in der Gaststube „Zur Dorfschenke“, in der Gilbrech der Wirt war und in der sein Sohn Alfons die Gäste bediente.

      „Ja, ja, da hockt er. Und süffelt bereits den zweiten Becher Bier“, grinste Alfons auf den sitzenden Mönch hinunter und nahm Trudes Bestellung auf: einen Becher Most.

      „Geht es dir nicht gut, Fidibus?“, schaute ihn seine gute Freundin besorgt an.

      „Dekan Ekkehard und Infirmar Kunibert haben sich gegen mich verschworen“, jammerte Fidibus.

      „Was?!“

      „Ja! Sie wollen, dass ich abnehme. Wegen den Knochen. Meinen Knochen. Anscheinend drücke meine Voluminösität auf die armen Dinger und das sei ungesund. Ab heute bekomme ich nur noch karg abgemessene Portionen zu essen. Bis Weihnachten. Bis Weihnachten muss ich hungern“, schrie der gebeutelte Mönch in den Raum hinaus und klammerte sich an seinen Bierbecher.

      „Und ich dachte schon, du hättest ein richtiges Problem“, lachte Trude.

      „Das ist ein richtiges Problem!“, insistierte der Cellerar.

      „Ach was! Fidibus, ich habe eine Ablenkung für dich. Die wird dich schön in Anspruch nehmen, sodass es ruck, zuck Weihnachten wird.“

      „Um was geht es?“

      „Du musst nach Reichenau.“

      „Du bist schon die Zweite, die mich nach Reichenau schicken will.“

      „Ach ja?“

      „Ja. Ich stelle dich nachher jemandem vor.“

      „Und wem?“

      „Der Stiftsdame Marie. Aus Quedlinburg.“

      11

      Josef von der Altenburg zu Cannstatt sass auf einem Schemel am Tisch in seiner Hütte und starrte seinem Neffen Peter, der auf der langen Bank, eingekuschelt in eine Wolldecke und angelehnt an die Wand hinter ihm, döste, ins Gesicht. Der Junge hatte ein Problem, das gelöst werden musste. Gut. Aber hier bleiben konnte er nicht. Dies war eine Einsiedlerhütte. Seine Einsiedlerhütte. Will heissen, dass er alleine hier leben wollte. Doch immer wieder brachte ihm das Schicksal irgendwelche Nasen vorbei, die seine meditative Ruhe durcheinander brachten. Richtige Störenfriede. Ausser natürlich seine Freundin Tronhilde. Ihre Gegenwart störte ihn nie. Aber sie wollte ja auch nicht hier einziehen oder für länger bleiben. Sie wohnte auf ihrer Burg. Burg Falkenhorst. Und dort hatte es Platz. Viel Platz.

      „Peter, aufwachen!“, schüttelte Josef seinen Neffen an der Schulter.

      „Was ist los?“

      „Wir unternehmen eine Wanderung.“

      „Eine Wanderung?“, rieb sich Peter die Augen und gähnte ausgiebig.

      „Ja.“

      „Und wohin?“

      „In die Nähe von Obergoldach.“

      „Und wo ist das?“

      „Oberhalb von Untergoldach. Und das liegt am Bodensee.“

      „Meine schöne Insel Reichenau wartet auch im Bodensee.“

      „Ja, ja. Aber ich rede von der Gegend um Rorschach. Dort, wo der Alpenrhein in den See fliesst, nicht aus ihm hinaus.“

      „Aha. Und was tun wir in der Nähe von diesem Obergoldach?“

      „Leute besuchen.“

      „Malen die auch?“

      „Das bezweifle ich.“

      „Was tun sie denn?“

      „Abenteuer erleben?“

      „Ich mag keine Abenteuer mehr. Ich bin anscheinend der bedächtige Typ.“

      „Da musst du jetzt durch, Junge. Das gehört zum Erwachsenwerden.“

      „Wer sagt denn, dass ich erwachsen werden will?“

      „Das Leben, Peter, das Leben.“

      Während ihres Gesprächs hatten sie die heimelige Hütte verlassen, Josef auf dem von den Räubern seit einer Woche und gegen Bezahlung ausgeliehenen Maulesel Tröpfchen, Peter zu Fuss, und waren auf Wildwechseln den Hügel hinunter zur Sankt Galler Strasse gelangt, auf der sie nun allen möglichen Leuten begegneten, einem edel Gekleideten auf einem Hengst, der plötzlich aus dem Novembernebel auftauchte und fast in die beiden hineintrabte, einer Fischerin, die auf einem von einem Maulesel gezogenen Karren Fässer transportierte, Godek, dem Hufschmied aus Sankt Gallen, der grüsste und erzählte, dass er gerade Siegelindes Stute Linde auf Burg Falkenhorst neu beschlagen musste, denn das werte Fräulein liess kaum einen Tag vergehen, ohne dass es ausritt.

      „Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern“, lachte Godek.

      „Da wird sie sich freuen. Wir sind gerade auf dem Weg nach Falkenhorst und haben tatsächlich eine grössere Aufgabe zur Hand“, schmunzelte Josef.

      „Na dann viel Spass“, verabschiedete sich Godek und liess einen grinsenden Josef und einen beunruhigten Peter zurück.

      12

      „Darf ich vorstellen: Marie, das ist Trude; Trude, das ist Marie“, strotzte Cellerar Fidibus vor Stolz, so wie wenn die beiden ausschliesslich und nur mit ihm ganz alleine befreundet wären.

      Die beiden Frauen nickten sich höflich zu und beäugten sich dann gegenseitig, und das mit recht viel Neugierde. Sie waren zwar verschieden, doch beide ziemlich eigen, was sie einander wiederum ähnlich machte.

      Trude und Fidibus hatten Marie im klösterlichen Baumgarten, der auch der Friedhof war, bei einem herbstlichen Spaziergang im inzwischen von Sonnenstrahlen durchzogenen und aufgelockerten Nebel vorgefunden und nun setzten alle drei den Spaziergang gemeinsam fort.

      „Reichenau“, warf Fidibus in die lustige Runde und lenkte die Aufmerksamkeit seiner beiden Freundinnen auf die anstehende Aufgabe.

      „Ihr wollt auch, dass Fidibus nach Reichenau geht?“, fragte Marie erstaunt.

      „Nicht unbedingt ich selber, aber Peter.“

      „Wer ist Peter?“

      „Einer der Schüler der Malschule. Einer von denen, die nachhause geschickt worden waren.“

      „Von Hubertus, dem Lehrer, aus dem niemand so richtig schlau wird.“

      „Ja. Peter weiss nicht genau, warum er und sein Mitschüler Sigmund gehen mussten. Das