Sharon Lee

unglückselig verdammt


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die Karin öffnete und zum Trinken ansetzte.

       Vor ihnen lag das Meer, zum Hafen war es nur noch ein kleines Stück, unweit davon lag auch der einzige größere Bahnhof der Region.

       Mit durchgedrücktem Gaspedal steuerte Pietro auf die Kurve zu, um dann gleich links einzubiegen. Die Küstenstraße verlief den Felsen entlang, die hoch über dem Meer aufragten. Leitplanken waren nur streckenweise angebracht oder lagen angefahren am Straßenrand. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, die Abgrenzungspfeiler wieder ordnungsgemäß hinzustellen.

       Nur noch wenige Meter bis zur Kurve, Pietro bremste, um das Tempo zu drosseln. Stark verwundert drückte er erneut das Bremspedal, diesmal kraftvoller und komplett durch.

       Hitze stieg in ihm auf, der Schweiß tropfte über sein Gesicht. Die Situation schien ernst zu sein. Auch Karin wurde es plötzlich unwohl: «Bremsen, Pietro, bremsen!», schrie sie ihn an.

       «Geht nicht!», schrie er zurück. Die Bremsen hatten versagt.

       In bedrohlicher Geschwindigkeit raste der Wagen in die Kurve, und Pietro drehte das Steuer mit aller Kraft nach links. Gleichzeitig riss er die Handbremse hoch.

       Karin schrie um ihr Leben.

       Pietro brüllte: «Jemand hat die Bremsen manipuliert! Man will uns umbringen! Verdammt nochmal, stell endlich die Musik aus!»

       Von da an ging alles sekundenschnell. Der Wagen schaffte die Kurve nicht, geriet im Temporausch von der Straße und schleuderte direkt auf die Klippe zu, bis über das Felsplateau. Zehn Meter waren es noch bis zum Abgrund.

       Pietro konnte nichts mehr tun. Karin riss panisch an der Wagentür, aber die ließ sich nicht öffnen. Der Wagen raste direkt über die Felskante in die Weite, dann kippte er kopfüber und stürzte in die Tiefe.

       Es war aus. Niemand würde den Fall in die Tiefe überleben. Ihre Schreie der Angst verhallten in den Felsen, als der Wagen auf den Meeresgrund sank.

      Das Bild von Karins verschmutztem Gesicht und zerzaustem Haar und die Schreie des Todes hallten in Mayas Kopf.

      Maya erwachte schlagartig aus ihrem Traum und hörte ihr eigenes Herz laut pochen. Sie atmete kurz und schnell, schnappte dazwischen ängstlich nach Luft. Ihr Pyjama war tropfnass, der Hals wie zugeschnürt. Mit zittrigen Händen ertastete sie ihr Haar, und wie erwartet war es klitschnass.

      Kapitel 1 - Maya Hartmann

      Wenige Jahre zuvor hatte Maya nicht im Geringsten geahnt, dass sich ihr Leben schlagartig ändern würde und danach nichts mehr sein sollte, wie es war. Sprach man sie auf ihre Kindheit an, senkte sie ihren Blick und lächelte verlegen. Aufgewachsen war sie bei ihren Großeltern in der Nähe von Zürich. Die Familie Hartmann lebte in gutbürgerlichen Verhältnissen, so dass es ihr an Materiellem nie gefehlt hatte. Doch kein Geld der Welt half Maya über den Verlust ihrer Mutter hinwegzukommen. Es war für alle ein schwerer Schicksalsschlag gewesen, als Karin Hartmann plötzlich aus ihrer Mitte gerissen worden war.

      Alles, was Maya vom Tod ihrer Mutter wusste, stammte aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Sie sei Ende der Siebzigerjahre in den Süden Italiens gereist, um sich noch einmal mit ihrem Ex-Freund zu treffen, ein Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe und dem Vater ihrer Tochter, von dem sie sich noch vor Mayas Geburt getrennt hatte.

      Als Karin ihre Eltern damals vor die Tatsache gestellt hatte, sie werde mit ihrem Baby nochmals nach Süditalien reisen, hatte Josef Hartmann interveniert und gar den Streit mit seiner Tochter nicht gefürchtet. Doch sie war stur geblieben. Gegen den Willen ihrer Eltern war Karin eines Nachts heimlich losgefahren. Nur in einem Punkt hatte sie auf Druck nachgegeben: Sie hatte die kleine Maya bei den Großeltern zurückgelassen.

      Zwei Wochen später sollte ihre Rückkehr sein, aber Karin war nicht nach Hause gekommen. Auch eine Woche danach war sie noch immer nicht aufgetaucht und selbst nach zwei weiteren Monaten fehlte jede Spur von ihr.

      Mayas Großvater hatte die Umstände von damals so beschrieben: Nachdem sie kein Lebenszeichen von ihrer Tochter vernommen hatten, hätten sie schnell die Befürchtung gehabt, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Denn niemals hätte sie das Baby einfach so verlassen, Karin hätte sich zuhause gemeldet. Also hatten sie die Polizei verständigt und die dazumal fünfundzwanzig Jahre alte Tochter als vermisst gemeldet.

      Es seien drei lange Wochen vergangen ohne eine Nachricht der Polizei. Aber dann, an einem regnerischen Nachmittag, hatte es plötzlich an der Türe geklingelt. Mayas Großvater erinnerte sich immer wieder an den einschneidenden Moment, als die beiden Polizisten das Haus betraten und er vom ersten Augenblick an wusste, dass er seine Tochter nie wieder lebend sehen würde.

      Auf Vorstoß der Schweizer Polizei, die sich mit der Vermisstenanzeige an die Kollegen in Süditalien gewandt hatte, waren die Ermittlungen ins Rollen gekommen.

      Gemäß Rapport an die Zürcher Kollegen war Karin bei einem Überholmanöver in überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und die Klippe hinuntergestürzt. Dabei waren sie und eine weitere Person tödlich verunglückt.

      Mehr wusste Maya nicht, auch nicht über den tragischen Unfall. Es waren immer dieselben alten Geschichten, die sie erzählt bekam. Mehr gab es nicht, außer der Frage, was wohl gewesen wäre, wenn Karin ihr Baby damals nach Italien mitgenommen hätte. Vielleicht wäre sie heute noch am Leben. Aber genauso gut hätte es sein können, dass auch Maya beim Autounfall gestorben wäre.

      Ihre Großeltern hatten damals eine schwere Zeit und unter dem Schicksalsschlag gelitten. Josef Hartmann arbeitete unaufhörlich, um sich von seinem Schmerz abzulenken, und auch seine Frau war nie über den Verlust hinweggekommen. Lange Jahre war sie depressiv gewesen und irgendwann hatte sie aufgehört mit dem Essen. Maya und ihr Großvater standen der Situation hilflos gegenüber und taten alles, um Großmutters Leiden zu lindern. Helfen konnten sie ihr nicht.

      In dieser Phase kamen bei Maya immer wieder die Gedanken an ihren leiblichen Vater auf. Sie sehnte sich nach ihm, obwohl sie ihn nicht kannte. Von ihm wusste sie nichts, weder wie er ausschaute noch wie alt er war. Sie vermutete, dass er einmal in Süditalien gelebt hatte. Aber auch das war nur eine Idee. Einmal hatte sie es gewagt und ihren Großvater auf das Thema angesprochen – und es gleich wieder bereut. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.

      Erst Jahre später unternahm Maya einen weiteren Anlauf, um an Informationen über ihren Vater heranzukommen. Diesmal suchte sie das Gespräch mit ihrer Großmutter.

      Vielleicht hätte diese ihr etwas über ihren Vater erzählt, wenn Großvater nicht eingeschritten wäre.

      Auf die Frage, weshalb er wütend auf Mayas Vater sei, antwortete er knapp: «Der Mann ist für uns gestorben. Er existiert nicht.»

      Mit dieser Wahrheit hatte Maya ihr Leben lang gelebt: Ihre Mutter war tot und ihr Vater war für ihre Familie gestorben. Ob er wirklich tot war, das sollte sie nicht erfahren. So wollte es Mayas Großvater und dabei war es auch geblieben.

      Als wäre das alles nicht schon genug an Schicksalsschlägen gewesen: Einige Jahre später, als Maya gerade sechzehn war, starb ihre Großmutter an einem Herzstillstand. Sie war am Abend zuvor normal zu Bett gegangen und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufgewacht.

      Mit dem Tod seiner Frau änderte sich das Leben von Mayas Großvater schlagartig. Er war nie mehr derselbe. Mit seinem Gesundheitszustand ging es stetig abwärts. Zeitweise versank er im Alkohol, vernachlässigte soziale Kontakte und klagte über immense körperliche Schmerzen. Es kam soweit, dass Maya nach der Schule den Haushalt führen musste, neben dem, dass sie für ihre Prüfungen büffelte und sich stundenlang die Leiden ihres alkoholisierten Großvaters anhörte.

      Erst einige Jahre später hatte sie das Gröbste ihrer Krise