Sharon Lee

unglückselig verdammt


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Grund gewesen, weshalb sie ihn damals ausgetragen und zur Welt gebracht hätte. Ernüchternd war die schonungslose, kalte Art, wie seine Mutter ihm die Wahrheit servierte.

       Nach diesem fürchterlichen Tag hatte sich sein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Oder anders ausgedrückt: Das Leben war noch dasselbe, aber Giulio war «von jetzt auf gleich» erwachsen und auf seine eigenen Beine gestellt worden. Sein Vater war gestorben und das Vertrauen zu seiner Mutter zerbrochen. Verständnis für sein emotionales Desaster bekam Giulio keines. Als er geweint hatte, war die Mutter wütend geworden: «Du wolltest es wissen, selber schuld.»

      Später dementierte sie ihre Aussagen, doch es war zu spät: Giulio zweifelte keine Sekunde am Wahrheitsgehalt der Geschichte. Sie sprachen nie mehr darüber.

      Als das alles geschehen war, war Giulio gerade mal sechzehn Jahre alt. Das war in der Zeit der Siebzigerjahre. Die Wirtschaft produzierte Konsumgüter mit neuer Fließbandtechnik, und es herrschte weltweit Aufbruchsstimmung. Die neue Generation der Jugend war voller Ideale und Perspektiven. Junge Freidenker, die nach dem amerikanischen Vorbild lebten. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, reizte auch Giulio. Die Schule hatte er abgebrochen, zwischendurch verdiente er sich ein wenig Geld mit Botengängen. In Santa Berta wurde es ihm schnell zu eng, hier kannte er jeden Stein, jeden Winkel und jeden Riss in den Hausmauern.

      Bei einem nahestehenden Onkel, der zwei Jahren vorher nach Amerika gezogen war und inzwischen dort eine eigene Tankstelle und ein Haus besaß, hatte Giulio beobachtet, dass man im Ausland schnell reich werden konnte.

      Ausschlaggebend für seinen Entschluss, ebenfalls auszuwandern, war dann aber ein weiterer Verwandter gewesen: Giulios Cousin. Auch er war aus Santa Berta weg und in die Schweiz gereist, um Arbeit zu finden. Als er erstmals für den Sommerurlaub in die Heimat zurückgekehrt war, hatten ihn die Dorfbewohner wie einen König behandelt. Giulios Cousin hatte sich in der Schweiz extrem verändert: Er trug nun Klamotten feinster Qualität, an seinem Handgelenk eine edle Schweizer Uhr und eine Goldkette mit einem schweren Jesus-Kreuz-Anhänger um den Hals. Von ihm hatte Giulio gehört, dass es in der Schweiz viel Arbeit zu bester Bezahlung gäbe. Abends war er lange wach im Bett gelegen und hatte darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, in diesem Land zu leben. Nach drei Nächten des Grübelns war sein Entschluss gefasst: Giulio wollte nicht wie seine Eltern enden, die das Dorf kaum verlassen hatten. Er hatte sich höhere Ziele gesteckt, wollte raus in die Welt, die Welt seiner Träume und dieser unbegrenzten Möglichkeiten.

      Am nächsten Tag waren die Koffer gepackt, und er folgte seinem Cousin in die Schweiz.

       Doch es kam anders als geplant: Nach vier Jahr war Giulio nach Santa Berta zurückgekehrt. Die Nachricht, dass er eine bildschöne, blonde Frau aus der Schweiz an seiner Seite habe, sprach sich schnell herum. Man munkelte, dass er mit der Frau zusammen ein Kind habe. Es sei ein Mädchen mit dem Namen Maya.

      Was genau damals in der Schweiz vorgefallen und wer die schöne, junge Frau an seiner Seite gewesen war, darüber wurde geschwiegen. Seither hatte Giulio Bonfortuni sein Heimatdorf nie wieder verlassen.

      Kapitel 4 - Falsche Richtung

      Maya stand benommen in der Eingangshalle des Universitätsspitals. Vor zwei Stunden hatte man sie benachrichtigt und ihr mitgeteilt, dass Josef Hartmann in die Notfallstation eingeliefert worden sei.

      Ein typisch klinischer Geruch, der Maya an bakterientötende Reinigungsmittel erinnerte, lag in der Luft. Es war genau wie damals, als Mayas Großmutter wegen einer Herzentzündung behandelt worden war. Die Erinnerung versetzte Maya noch heute einen Stich, es war ein Schock gewesen, als ihre Großmutter, kurz nachdem sie das Krankenhaus verlassen durfte, zu Hause verstorben war. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich Maya, wie sie damals ins Schlafzimmer ihrer Großmutter gerannt war, weil sie ihren Großvater aufschreien gehört hatte. Das war vor neun Jahren gewesen. Und nun war sie erneut hier, diesmal in schrecklicher Sorge um ihren Großvater.

      Als Maya das Krankenzimmer betrat, lag ihr Großvater regungslos im Bett. Seine Augen waren geschlossen. Sein Anblick war besorgniserregend. Sanft griff Maya nach seiner Hand. Er öffnete die Augen und wandte langsam den Kopf, um seine Enkelin sehen zu können. War es ein Lächeln, das ihm übers Gesicht huschte?

      «Maya», flüsterte er.

      Ja, er lächelte wirklich!

      «Opa!»

      Schwach drückte er ihre Hand.

      «Der Arzt meinte, ich hätte Glück gehabt.»

      Nur schon dieser eine Satz kostete ihn viel Kraft.

      Eine knappe Stunde noch saß Maya bei ihm, bis der Chefarzt ins Zimmer trat und sie zum Gehen aufforderte: «Herr Hartmann benötigt Ruhe. Kommen Sie morgen wieder.»

      Nachdenklich stieg Maya in das erste Tram in Richtung Innenstadt und sackte auf ihrem Sitzplatz in sich zusammen. Eine innere Leere überkam sie. Ein Gefühl, als stünde sie im Nirgendwo mitten in einer kargen Wüste. Egal, wohin sie blickte, da war Nichts, außer die Frage: In welche Richtung sollte sie gehen?

      An der Haltestelle «Central» stoppte das Tram und Maya war zurück in der Realität. Es war ihr, als würden sie die anderen Fahrgäste angaffen, die Frau auf dem Sitzplatz ihr gegenüber mit dem Kind zum Beispiel, aber auch der Geschäftsmann, der neben der Frau stand, starrte in Mayas Richtung. Ihr wurde es zu eng unter den Leuten, also stand sie spontan auf, um auszusteigen.

      Ihre Hände waren kalt und steif, Menschen liefen an ihr vorbei und doch war sie nicht bei ihnen, so als stünde sie hinter einer Glaswand.

      Die Zeit hatte sie völlig vergessen und stellte mit Schrecken fest, dass sie eine halbe Stunde verspätet war. Sie hatte sich mit Thomas und ihrer besten Freundin Nadine auf einen Drink verabredet.

      Obwohl es Maya nicht nach Unterhaltung und Gesellschaft war, hetzte sie weiter in Richtung Zürichsee. Es war ein gutes Stück durch das Niederdorf, Maya lief die Gassen hoch und wieder runter.

      Eine Viertelstunde später war das «Bellevue» in Sichtweite und kurz darauf traf Maya im Café direkt neben der Buchhandlung ein, wo sie von Nadine und Thomas bereits erwartet wurde.

      Kaum war Maya angekommen, wäre sie am liebsten wieder gegangen. Sie fühlte sich aus der Bahn geworfen und fand, es sei ein Fehler gewesen, in ihrer jetzigen Verfassung gesellig sein zu wollen. Es passte heute einfach nicht mit ihren Freunden. Teilnahmslos saß sie da und glotzte auf die Kohlensäure ihres Sprudelgetränkes.

      Kapitel 5 - Der Brief

      Als Maya am nächsten Morgen das Krankenzimmer betrat, drehte Josef Hartmann seinen Kopf in ihre Richtung. Er nickte seiner Enkelin zu und gab mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich hinsetzen sollte. Erwartungsvoll und ohne zu zögern, folgte Maya seiner Aufforderung und rückte den Stuhl nahe ans Krankenbett.

      «Maya …», flüsterte er. Sie kam näher, um ihn zu verstehen. Dabei bemerkte sie erst, wie angespannt er war.

      «Deine Mutter – meine einzige Tochter Karin …»

      Maya erschrak, als sie ihn den Namen ihrer Mutter sagen hörte. Ihr Großvater hatte so viele Jahre geschwiegen, das Thema stets gemieden.

      Josef Hartmann sprach leise weiter: «Der Unfall …»

      «Meinst du Mamas Unglück in Süditalien?»

      Fest drückte er Mayas Hand und schaute sie mit einem Blick an, der keine Zweifel an seiner Überzeugung ließ: «Nein, es war Mord!»

      Sie war schockiert und ihre Hände zitterten. Ihr Leben lang hatte sie geglaubt, ihre Mutter sei tödlich verunfallt. Und jetzt sollte es Mord gewesen sein? Ihr Großvater musste sich irren.

      «Das ist zweiundzwanzig Jahre her! Wie kommst du plötzlich auf diese schreckliche Idee?»

      «Du