Herbert Beyertz

Myriam oder Nebelland hab ich gesehen


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geborgen werden.“

      Elsa liest es vor nach dem Mittagessen: „Ich glaube, ich kenne die Familie.“

      „Steht denn da ein Name?“

      „Kein Name. Ich war doch gestern mit Rachel und ihrer Schwester aus Holland in Düsseldorf. Auf der Rückfahrt haben wir bei Kaarst getankt, und die Frau, die dort an der Tankstelle vorüberhastete, als würde sie verfolgt, mit den zwei kleinen Jungs… Mein Gott, das kann nur sie gewesen sein! Sie grüsste, wir hatten sie einmal als Dienstmädchen, lange vor ihrer Ehe. Du erinnerst dich doch – Martina, der Ostflüchtling… Mein Gott.“

      Nach einer längeren Pause, Mutter Elsa an der Spüle, ihre Stimme gedämpft vom einlaufenden Wasser:

      „Dein Vater, Holger, hat heute Morgen angerufen, er möchte dich gern vor Weihnachten einmal sehen.“

      „Muss das sein?“

      „Aber Junge, fünf Jahre, dass er dich zuletzt sah… Er ist dein Vater.“

      Jemand war zu Besuch gekommen. Holger Ley befand sich auf seinem Zimmer, draussen herrschte tiefe Dunkelheit. Jemand war dem Lärmstrom dieser Dunkelheit entstiegen, war mit dem Aufzug auf acht Stock Schwindelhöhe gefahren, um ihn zu besuchen.

      Das Kratzen einer Tierpfote an seiner Tür – er öffnete und zwei junge Schäferhunde, fast noch Welpen, sprangen zu ihm herein. So zutraulich sie auch schienen, nur zum Spielen aufgelegt, schubste er sie doch wieder zum Zimmer hinaus. Wem diese Tiere gehörten, kam ihn sich zu fragen keinen Moment in den Sinn. Nur eine Benommenheit war da, sie liess ihn sich erneut ans Fenster stellen.

      Die Mutter klopfte und fragte mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme, ob er den Gast nicht begrüssen möchte. Mit ihrem Öffnen waren die beiden Hündchen ebenfalls wieder hereingesprungen. So trat er halb genötigt in das angrenzende Zimmer, das die Verbindung zu den übrigen der Etagenwohnung herstellte und wo er den Gast am Esszimmertisch sitzend fand. Der Vater.

      Der Vater warf Elsa ein verschmitztes Lächeln zu, als er im Brustton anhob:

      „Etwas mehr Freude, seinen Vater wiederzusehen, täte uns allen gut, glaube ich.“ Holger, sofort aufgebracht, von dem einen Satz unsinnig gereizt, bringt zwar nur etwas gestottert Unverständliches heraus, aber dem Ton nach so Rüdes, dass es einer schweren Beleidigung gleichkam. Das wiederum genügt, dem leberkranken Mann seine spassige Pose völlig zu rauben, ja, um ihn zu zerbrechen. Er stammelt Vorwürfe, unterstützt von Tränen, die aus dicken Augensäcken quillen, indes sein Sohn ihn am Joppenkragen fasst, in Wut und Verzweiflung auf der Stuhlbank schüttelnd. Doch kaum dass er von ihm gelassen, um in seine Kammer zu verschwinden, packt ihn schon die wilde Reue über diesen Willkomm.

      Er kehrt um, er kann nicht anders, er öffnet wieder die Tür, in deren Rahmen er sich nun selber stehen weiss als der Verlorene Sohn.

      Seine niedergeschlagenen Blicke fallen auf die zwei jungen Hunde. Verschreckt wie sie sind, trauen sie sich nicht mehr in seine Nähe. Sie drängen vielmehr gegen ihren Herrn, der sich erhoben hat und auf einmal unbegreiflich gefasst ist.

      Keines Wortes fähig, starrt die Mutter auf Sohn und geschieden Gatten und öffnet langsam die ihr nächste Tür, auf die der Greis unter mehrfachem Räuspern sogleich zuschreitet. Ihm folgen seine Hunde dicht bei Fuss. Von Elsa verabschiedet er sich mit ein paar rätselhaften Worten, von denen sie später nur noch eins zu erinnern weiss:

      „Karelienwein... So wenigstens hab ich es verstanden. Sicher hatte er wieder getrunken. Und das in seinem Zusstand. Ich verstehe diesen Mann nicht, habe ihn nie verstanden. Aber er ist dein Vater, und ich glaube, er war nur gekommen, damit du dir eins von den beiden Hündchen aussuchst. Weil doch bald Weihnachten ist...“

      Yellow Submarine hiess das Lokal im nahe gelegenen Block der Strasse, die zum Bahnhof führt. In einer Luft, schneidend vom Zigarettenrauch wie niederrheinischer Nebel, roch es an Wochenenden meist noch nach anderen, narkotisierenderen Stoffen. Heute wohnen da heimatvertriebene Afghanen, denen man gerne glaubt, niemals einen Joint, gedreht mit den Pflänzchen ihrer Heimat, erprobt zu haben.

      Die Decke dieses Lokals stellte etwas wie eine Sternkarte mit den Namen von Galaxien, Sternbildern und Planeten dar. Um den Tresen herum lief noch die Silberspur eines Raumschiffs mit den Positionsmarken Pluto, Saturn, Jupiter, Venus, Mars und Mond. Wer hier sein Bier, seine Cola trank, zahlte bei „Lederhose“, dem Barkeeper. Erst am Tresen, danach am Tisch bei „Raumläufer“ ein Getränk bestellen, bedeutete zwei verschiedene Rechnungen: Raumläufers Bier war nicht Lederhoses Bier.-

      Die Musikbox setzt ein und zum fünften oder sechsten Mal singt Donovan von Atlantis. Holger Ley zwischen Tresen und einer meterlangen Fensterbank, vor ihm ein einzelner Blumentopf, eine halb verdorrte, schon nicht mehr zu identifizierende Blume. An diesem Montag hier einzukehren, hatte er nicht vorgehabt – verabredet für das neu eröffnete Kino in Grunewald mit Myriam. Doch wartete er an der Haltestelle der Strassenbahn vergebens auf sie, auch der zweiten „9“ entstieg sie nicht mehr. Damit war es zu spät für „Odyssee im Weltall 2001“. Das von einem früheren Gast auf der Fensterbank abgelegte Tagesblatt schien ihm nun diesen 29. November nicht schlecht zu kommentieren mit der rätselhaften Strandung von Hundertfünfzig Delphinen an der japanischen Küste. Da heisst es:

      „Zunächst hielten die Inselbewohner ihr Näherkommen noch für ein Spiel.“ Schliessich sieht man Fischen ihr Elend nicht an. Als sich aber immer weitere von ihnen auf den Strand treiben liessn, um dort zu verenden, erwachten die Menschen zu Rettungsversuchen. Wieder und wieder zogen und schleppten sie die schweren Tiere ins Meer zurück. Jedoch, für die Insulaner ein düstres Omen: „Die Delphine schwammen wie einem Todesengel folgend unbeirrbar an den Strand zurück.“

      Der Regen am Morgen in windigen Gassen, die windige Unmut eines Deutschland im Herbst am Abend, um alle Ecken misanthropisch säuselnd:

      „Wahrhaftig, du bist überflüssig wie ein nasses Streichholz, du bist nur eine peinliche Erfahrung für jeden gescheiten Benutzer. Für einen Sympathisanten hast du schon gar zu viel Pathos! Es wäre jetzt sicher gut, wenn du kehrt machtest – ja kehr, kehr die Strasse von dir rein!“

      Geht er ins Kino, ein „Django“ läuft immer.

      Django. Eine letzte Kugel im Colt des armseligen James: lächelnd zwingt Django ihn, sich selber den Colt an die Schläfe zu halten. „Schiess, du Halunke!“ Zweimal bloss ein Klicken. Dann – was flüstert, was raunt am windigen Oberlicht? Wer rief?

      Wellmahr

       II Wellmahr

      Ihm war die Gabe der Zungenschwere verliehen.-

      Boris Pasternak

      Es ist Schnee gefallen – eine immer junge Verheissung: erster Schnee! Die Srassen mit ihren langsameren Mobilen laden Geheimnis auf. Alle Passanten, besonders aber die Kinder, empfangen Heiterkeit als Geschenk. Sie versuchen zu glitschen – fallen sie hin, bedanken sie sich dafür lachend. Oder sie formen im Aufstehn Schneebälle, und jetzt ist in Wurfnähe kein Mensch mehr sicher, sich mit Gelächter dafür bedanken zu müssen, getroffen zu werden.

      Da es Abend, wird man Schlitten nicht mehr zu sehen bekommen, auch geht ein scharfer, wirbelnder Wind, der nicht lange verweilen lässt. Ein kleiner Hund hastet verstört die Marktstraße hinunter, die wenigeren Fussgänger haben es fast schon ebenso eilig, während die Autos um so behutsamer über die weisse, kaum gespurte Fahrbahn ziehn.

      Im Zentrum der Unterstadt und um den Bahnhof herum füllen sich die Kinos Dank des überraschenden Schneefalls mehr als gewöhnlich an diesem Sonnabend, wenn die weihnachtlichen Geschäftsstrassen oft noch Promenaden gleichen. Geboten wird in ihnen eigentlich genug, wie es braucht, um mit offenen Augen in die entzückendsten Illusionen zu entschlafen! Und so wird auch in den Kinos gelacht. Aber hört man einmal genauer hin, so ist es ein etwas anderes Lachen als das der Kinder draussen angesichts des ersten Schnees. Im Düstern rings ein seltsam düsteres Lachen.

      Doch wie selten die