Herbert Beyertz

Myriam oder Nebelland hab ich gesehen


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dem Weg zum Gymnasium: eine alte kleine Frau vor einer Schaufensterscheibe, mit ihrem eignen Spiegelbild in angstvoll aufgeregter Zwiesprache – hörbar den Vorübereilenden: „Was sollen wir bloss machen…“ Da Holger stehen bleibt, wendet sie sich sogleich ihm zu, fragt nach einem Bus, den sie schon mehrmals verpasst hat. Kaum dass der Gymnasiast mit der Linken nach einem sich nähernden weist, dreht sie sich mit heftigem Winken, das Trottoire verlassend, dem zu. Während aber der Linienbus ohne anzuhalten vorüberbraust, fällt ihr nichts besseres ein, als weiter Leute zu befragen und Verwunderung zu erregen. Sie hat einen raschen, leichtfüssigen, ungewöhnlichen Schritt – fast fliegt sie! denkt Holger Ley mit einem düsteren Lächeln.

      Ja, die ist nur noch halb von dieser Welt.

      Winter in Wellmahr. Wieder schneit es, aber zugleich strahlt die Sonne über den Dächern, färbt Firste und Balkonwände und vergisst selbst die paar Tauben nicht, die durch Flockenfall und Sonnenstrahl noch wie selig Verirrte ihre Kreise ziehn.-

      „Holger, der Vater hat anrufen lassen, Isgard war am Telefon. Er liegt in Salzufeln im Krankenhaus – wollen wir ihn besuchen fahren?“

      „Ist es – ernst?“

      „Sie weiss noch nichts Genaues. Doch wie er aussah, neulich…“

      Immer die weissen Dächer! Aber ein grünklarer Himmel hebt an und leuchtet von einer solchen Fata Morgana der Stille, wie sie niemand so leicht mehr unter den oft wie in Albträumen oder in Spitälern Wandelnden erwartet hätte.-

      In Isgards Studio lag aufgeschlagen ein Buch zwischen zwei Notenstapeln. Holger hatte etwas zu warten, er sollte Bach-Noten für die Mutter abholen. Als seine Tante mit einer Schülerin erschien und ihn darin lesen sah, sagte sie: „In deinem schwierigen Alter wäre es vielleicht eine Lektüre wert, nimm es nachher mit.“ Die Cello-Schülerin, eine ihrer begabtesten, lachte ihn an, obwohl sie das Letzte vielleicht nicht mit bekam:

      „Aber bitte keine Eselsohren darin.“

      Zuhause las er wieder und wieder diese Stelle:

      „Hier wohnt der uneigentliche Mensch, der homo mutabilis unter der Grundstimmung der Melancholie. Er ist gekennzeichnet durch den Verlust seiner kreatürlichen Bestimmung, durch sein Versagen im Wort, sein Verwirken im Werk. Geworfen in eine schiffbrüchige Welt, lebt er in Angst, immerfort am Kreuzweg der Sorge.“

      Mit den Tauben ist dann auch die Sonne verschwunden. Und sie soll nun ersetzt werden durch die Illuminationen der Strassen und jener Bauten, sofern sie „öffentlichen Sorgen“ dienen. Es ist, als hätte die Erde schneller zu kreisen begonnen, ja, zu schlingern vor aller Geschäftigkeit! Es ist die Stunde, da Hupen und Martinshörner zum Tanz aufspielen.

      Ihn trugen die Busse über die Lichterstrasse, vom Bahnhof zum Alten Markt und wieder hinunter, mehrere Male. Ihn vereinnahmte der eintönige Rhythmus so sehr, dass er, indem er seinen Eigenwillen lähmte, seine Einsamkeit unter all den einsamen Menschen grösser zugleich und erträglicher machte.- „Role over Beethoven – “ schallte es aus einer Eckkneipe der Unterstadt, wo er seinem Bus zum letzten Mal entstieg. Holger Ley fühlte das Fieber einer Grippe, das Sprechen mit rauhem Hals fiel ihm schon schwer, als er eintrat und sich einen heissen Grog bestellte. Dichter als der Nebel um den Geroweiher stand der Zigarettenrauch in der gespickt vollen Kneipe. Hier kannte er niemand, so weit wenigstens seine Sicht reichte. Da die Musikbox nach Chuck Berry stumm blieb, war ihm das Kleingeld, das er auf sein Fünf-Mark-Stück zurück bekam, gerade recht, um selbst die Box in Gang zu setzen. Er wählte die alte Rock’n-Role-Nummer noch zweimal.

      Ihm war jetzt gewiss nicht nach Rock’n Role, obwohl der Grog gut tat. Es war aber der Name, der als fernes Echo noch Funken schlug in der Verjazzung. Ein Taschenbuch mit Texten Leonard Bernsteins, eine Woche zuvor gekauft, hatte ein altes Feuer wieder anzufachen vermocht. Da hiess es: „Beethovens Musik spielen heisst, sich ganz dem Kindergeist anvertrauen, der in diesem grimmigen, unbeholfenen, gewalttätigen Mann lebt.“ Wem immer seine Musik zum Erlebnis würde – das fühlte er wieder und glaubte es mit Lenny –, der könnte sich nicht verloren geben.-

      In der Nacht dann wurde ihm folgender Traum. „Roger, Roger!“ Immer wieder hörte er den Ruf, der wie die Stimme eines Bordfunkers aus einem Raumschiff seinen Schlaf durchtönte. Dazu grosses Rauschen, Möwenschrei und das Rollen von Wogen gegen eine Klippe, auf der er sich selber stehend fand. Das ist der Atlantik! war sein erster Gedanke beim Erwachen.

      Mit dem Schweiss der Nacht hatte sich das Fieber verloren, und da er zum Frühstück die Küche betrat, vernahm er Taubengurren, tief und melodisch, vom gekippten Fenster her. Bevor sie zur Arbeit fuhr, hatte die Mutter ihnen Sonnenblumenkerne gestreut.

      Dämmerungen, die heute nicht mehr den Himmel räumen. Nicht deuten den Horizont die vertrauten Schornsteine, von denen sich nur vermuten lässt, daß sie (Fabriken ohne Sabbath) auch an diesem Samstag qualmen. Rauchgrau die Luft – ein ständiges Gebraus erfüllt sie, das so eintönig ist, weil es es sich fortwährend dem Lauschenden wieder vergisst. Doch wie das passt zu der Eintönigkeit einer grossstädtischen Landschaft! Und wenn sich die Laternen zu einem Zeitpunkt, der ganz zufällig scheint (weil man nicht einsehen kann, warum sie nicht schon in derselben Dämmerung des Vormittags angingen), entzünden, lassen sie sichtbarer nur Zwielicht und Nässe werden. Darum ist es auch vergebens, auf ein Glockenzeichen, ein Angelus-Läuten zu warten. Ungemahnt löst Tag sich in Nacht auf.-

      Wie viele dann werden es noch sein, die angetreten waren, die Vermauerungen einer immer automatenhafteren Gesellschaft nicht einfach hinzunehmen – oder wie wenige, die aus der korrespondierenden inneren Vermauerung die Lehre zogen (so las es Holgers in Isgards Buch) „aus der schattenhaften Wahrnehmung voneinander und der schattenhaften Wahrnehmung von uns selbst.“

      Um Mitternacht kam Holger Ley die Strasse zu den Häuserblocks des Blasenberg hoch. Er hatte Myriam zur Strassenbahn gebracht, mit der letzten der Linie „9“ würde sie in einer Stunde in Helau sein. Einer Band aus Holland, den Kabauters, war im Keller von Yellow Submarine ein solcher Street Fighting Men gelungen, dass sie beschlossen, sie noch einmal zu erleben. „Das war gross!“ Seltsam genug, eine Myriam das sagen zu hören – entsprechend ihr Abschied an der Strassenbahnhaltestelle.

      „Revolution Nine, wilde Myriam! Damit fährst du, und damit kehrst du Freitag zurück.“-

      Als er in die Gasse zu seinem Block einbiegt, gewahrt er einen Hund – dunkel, riesig –, der ihn augenblicks anfällt. Holger reisst sich los und flüchtet in den nächsten Hauseingang. Dort drückt er alle vorhandenen Klingelknöpfe, ohne jemand an die Sprechanlage zu holen. Inzwischen wird ihm klar: der Hund ist weg, und spurtet über die zweihundert Meter nach der eigenen Wohnung. Kaum oben, schaltet er jedes Licht in jedem Zimmer ein und bestellt per Telefon ein Taxi.

      Es graupelte, als ihn der Merzedes aufnahm.Von dem Dobermann war auf der langsamen Hinfahrt zum Krankenhaus nichts mehr zu sehen. In Maria Hilf begleitete ihn eine bejahrte Schwester zur Ambulanz und stellte dort zunächst seine Personalien fest. Etwas später setzte ein junger schwarzäugiger Arzt, dessen Deutsch mehr als nur gebrochen klang, ihm eine Tetanus-Spritze. Er betrachtete mit derselben Gelassenheit Holger Leys geringe Verletzung, mit der er den Bericht der Schwester über eine junge Frau entgegennahm, einer Spanierin, die bei einer Festlichkeit plötzlich umgefallen und noch nicht wieder zu sich gekommen sei.

      Unvermutet war es Holger, da sei von jemand ihm Nahestehenden die Rede. Auch die erwähnten Umstände, soweit er sie verstand, wollten ihn dunkel und peinlich an ein altes Versäumnis erinnern. Doch eine Frage zu stellen, dazu fehlte ihm (oder gerade deswegen) der Mut.

      Durch einen endlosen Korridor und über zwei Stationen gelangte er auf einem anderen Weg zum Pförtner wieder. Die bestehende Sorge, dem Doberman noch einmal zu begegnen, liess ihn erneut ein Taxi wählen. Die Schwester hatte es ihm selbst anheimgestellt, die Polizei zu benachrichtigen, aber der Taxifahrer riet es ihm nun:

      „Wenn der Köter nun mal tollwütig ist…“ Und begann eine Geschichte vom Westend, von der Siedlung bei den Schrebergärten.

      „Mein Nachbar war schon immer ein bisschen bekloppt mit seinem Hundefimmel. Es stand auch in der Zeitung, habt ihr's nicht