Herbert Beyertz

Myriam oder Nebelland hab ich gesehen


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heftete sich sein Auge auf ein anderes Bild. „Und das ist sicher die Fortsetzung von dem. Nicht mehr ganz so… Aber doch – sein Titel?“

      „Le Pont du Nord… Nach einem Film, der hier neulich im Kino lief.“

      Le Pont du Nord. Ein weiblicher Engel mit Namen Baptiste, auf vier Tage zugange im Labyrinth Paris – Schauplatz eines „Gänsespiels“…

      Noch in derselben Nacht nach dem Kinobesuch (einiges würde sich auf seiner Labyrinthtafel wieder finden) hatte er den denkwürdigen Traum von einem ähnlichen Wesen wie in jenem französischen Film. Wunderlich genug, auf einmal schien es Myriam zu sein, allerdings viel älter, schon als eine Frau in mittleren Jahren. Sie schritten zusammen durch eine Halle, von der man nicht sagen konnte, war sie unter oder über der Erde. Schienen von Loren und Strassenbahnen, aus ihrer Verankerung gerissen, stapelten sich hier kreuz und quer. Vor einer Wendeltreppe, die sie allein betreten würde, wandte sich Myriam noch einmal um. Sie schüttelte ihre dunklen Locken über ihn mit einem Lächeln voller Schwermut und schenkte ihm eine Uhr – eine goldene Uhr, als wäre er ein Kommunionkind!-

      Erwacht, erinnerte Holger das Gänsespiel im Dorf ihrer Kindheit, Myriam war dann immer dabei. In diesem Spiel der Dorfkinder lebte ein uralter Tanz, ein Ritus des alten Europa, fort. Auf Kreta war es „der Tanz der Kraniche“, wo die Kranich-Menschen Hand in Hand einer geheimnisvollen Mitte zuschritten, die „das Meer“ genannt wurde.

      Beflaggt sind noch die Altstadtgassen. Hunderte Wimpel überflattern die unabsehbare Menge teils hektischer, teils vergnüglicher Fussgänger. Wer aber vermag die zahllosen Winke zu verstehen, die mit den dunkleren Wolken immer noch aufgeregter, noch dringlicher werden? Der betrunkene Stromer, die Selbstmörderin, der zur Statue erstarrte Fixer auf der Rathaustreppe? Im wachsenden Zwielicht wächst die Erwartung namenlos und glühen die Blicke der Verzweifelten und Ekstatischen, als könnten sie finden Les Îles Fortunées in den Wolken!

      In ihrem ersten Jahr als Schülerin des Lizeums und sie sich seltener sahen, traf Holger einmal nur Mutter Rachel am Nachmittag in ihrer Wohnung an. Sie lud ihn ein, auf ihre Tochter zu warten. Dabei entfiel ihr ein Wort, das ihm wie ein unter dem Siegel der Thora gegebenes unverlierbar blieb.

      Rachel stand am Fenster ihres Wohnzimmers, wie stets mit besorgtem Blick, der aber unverhofft, ihr gleichsam selber zum Staunen, von einer freudigen Gewissheit zu leuchten schien. Nie vorher konnte er es an ihr bemerkt haben. Sie strich sich über die schon grauen Haare, und mit einem Siegerblick, der noch lange auf Holger ruhte, sagte sie:

      „Weisst du, Myriam hat einen Engel, ich habe ihn schon einmal gesehen.“

      Da stehen sie noch einmal auf dem Nordfriedhof unter tief schattenden Kastanien und blicken auf ein frisches Grab. Rachel Schwartz hatte getauft den Holocaust überlebt, nach Kriegsende noch Jahre in einem Schrebergarten Berlins gehaust, wo sie auch Myriam zwischen Netzen, Körben und Anglergerät geboren hatte. Mitte der Fünfziger, nach dem Aufstand in Berlin, war sie in den Westen gekommen, an den Rhein.

      „Ich wurde als Zwilling geboren, wusstest du das? Doch das Brüderchen wollte nicht zum Vorschein kommen, nicht in die kalte, helle Welt. Der Kaiserschnitt geschah zu spät, die Gute hier überstand die schwere Geburt auch nur mit einem Schaden, du hast sie ja gekannt. Nun ist es dem Mütterchen leichter, o leichter,“ und mit gesenkter Stimme:

      „Letzte Nacht sah ich sie wieder im Traum. Sie wirkte so verändert. Niemals hätte meine Fantasie das selbst erdacht, so sie zu sehen. War das wirklich meine Mutter, frage ich mich schon den ganzen Tag: so strahlend, so erlöst – oder war es ihr Engel? Glaubst du an Engel?“

      Sie bückte sich, um einer Vase mit gelben Rosen etwas Wasser zuzuschütten. Als sie sich wieder erhob, zeigte ihre Hand in die Krone der nahen Kastanie.

      „Siehst du die zwei Eichhörnchen da? Wahrhaftig, diese alten Bäume, die gute Ruhe hier – für die Tierchen rings muss es ein Garten Eden sein.“

      Ein Düsenjäger – schallmauerbrechend – holte Myriam zurück in dieses Land, das sie nie als ihr Vaterland empfinden würde. Ja, und dies verband sie mehr, als es ihnen zu dieser Stunde bewusst sein konnte.

      „Die Phantomjäger, Myriam, wie sie uns ihren Donner hinterlassen – jeden Tag, oder fast: ob die nicht, unbewusst natürlich, auf Dauer prägen? Und damit aufzuwachsen: könnte es späteren Bombenbastlern nicht so etwas wie eine Vorgabe sein, solche Mauern, die unsere herrlichen Wohlstandsjahre errichtet haben zwischen den Menschen, zu durchbrechen, wie auch immer?“

      Myriam hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt, ein unauslöschliches Gefühl blieb ihm, als sie diese Hand wieder fort nahm, lächelnd.

      „Wann fährst du, Myriam?“

      „Mit dem Nachtzug, ich schlafe gern im Zug. Ich liebe das monotone Pochen der Schienen. Rachel wäre wohl auch zurück an die Spree gekehrt. Die Freunde, die sie durch den Krieg gerettet haben, hat sie nicht mehr gefunden.“

      Entwurzelte! Im Mahlstrom einer Zeit, die wie noch keine an Jobsiaden reich und Geschichten von Leuten in Fischen und Feueröfen. In der Auflösung der Vaterländer, der Städte und Landschaften, werdet ihr immer flüchtiger über die versinkende Erde getrieben: aus demselben Grunde, mit demselben Schmerz.

      Zugvögel flogen – viele Hunderte – über Wellmahr eine Nacht lang. Ab und an ein lauter, triumphierender Schrei. Wildgänse!

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