Herbert Beyertz

Myriam oder Nebelland hab ich gesehen


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Wesen verständlich zu machen, als es der Beamte sein konnte. Doch scheint niemand nahe zu sein.

      Spät in der Nacht läutete das Telefon. Es war Isgard.

      „Na endlich! Du bist also zuhaus. Deine Mutter wird das Wochenende bei mir verbringen. Mehrmals hat sie am Abend versucht, dich zu erreichen, nun schläft sie.“

      Und bei dieser ruhigen, nicht den Hauch eines Vorwurfs andeutenden Stimme, löste sich in Holger etwas, und er erzählte ihr sein Erlebnis. Sie unterbrach ihn kaum einmal. Und weil es nicht ihrem Wesen entsprach, mit leichten oder billigen Sprüchen (das kann nicht so schlimm sein, mach dir keine Sorgen) ihren Neffen zu trösten, sagte sie am Ende nur:

      „Schlafen wirst du in dieser Nacht nicht. Habt ihr die Cello-Sonate in A-Dur?“

      „Beethoven! Natürlich – du hast sie doch selbst geschenkt.“

      „Ach ja, zu Elsas Fünfundfünfzigsten… Soll ich ihr von dem, was passiert ist, berichten?“

      „Bitte nicht, sie hat genug am Hals.“

      „Gute Nacht.“

      Beethoven, ein Knabe von zwölf Jahren, stundenlang am Dachfensterchen seines Vaterhauses hockend mit dem Blick auf den winterlichen Rhein...

      Fidelio. Der Anfang der Leonoren-Ouvertüre (bei Gustav Mahlers Inszenierung vorm Zweiten Akt im verdunkelten Orchesterraum) klang einer Isgard so, „als wäre auf dem Grunde des Kerkers das Meer erreicht.“-

      Im äusseren Leben gescheitert, taub, durch und durch krank – aber was macht er daraus? Das JA, die Freude, abgerungen einem beinah unmöglichen Leben.

      „Dämonen der Finsternis kommen zu Wort, die sich auch bei hellstem Tageslicht nie ganz zurückscheuchen lassen.“-

      Der hundert Tode starb. In seinen letzten Werken alle Phasen (wie Ärzte sie bei Sterbenden feststellen) der Resignation, des Aufbäumens, der Hoffnungslosigkeit, der Erlöstheit am Ende.

      „Es gibt kein Instrument, wird es nie geben, das die Dynamik wiedergeben könnte, die sich Beethoven in seiner stummen Welt vorstellte.“ Ingmar Bergman in seiner Autobiographie.

      Zum Rock-Festival hatte man die Brauerei Zur Uell verwandelt in eine Höhle ohne Winkel und Fenster. Davor geparkt ein gelber mittlerer Lkw, gross beschriftet: „Drahtlose Personen-Suchsysteme“ – sowie: „Kommunikation eine Lebensfrage“.

      Innen, in einem Drittel der neuen Höhle, bereitet sich der Medizinmann vom Mount Whitney für seine Seance vor. Myriam liest einen Flyer, der auf allen Stühlen liegt: „Erst war das Meer da, das Meer war überall, denn es war die Mutter. Sie ist zugleich der Geist von allem, was einmal werden soll – wir nennen sie Aluna … Gefällt dir das, Holger?“

      „Es gefällt. Aber bevor seine Seance beginnt, würd ich noch gern an die Musikbox.“ Der vorüber eilende Kellner: „Kein Problem, der braucht noch eine halbe Stunde.“

      Als Holger Ley sich zurück zu Myriam begibt, singt Donovan von Atlantis.

      Endlich der Medizinmann der Sierra Nevada… Im Dunstkreis der Joints der Kinder von Karl Marx und Coca Cola: herabgestiegen durch seine Trommel, spricht er mit den Ahnen seines Volkes. Und Holger denkt: Jetzt ist er – wie Florestan – am Grunde eines tiefen Meers.

      Ein von der Maas an den Tiber verschlagener Niederländer, der Dreiviertel des Tags sich auf dem Palatin herumtrieb, in einer Januarnacht plötzlich seine Pension an der Porta Pia verliess, um Roms grosse Mauer Kilometer um Kilometer abzuschreiten. Im östlichen Bezirk erstmals von Hunden verbellt, gelangte er zur Cestius-Pyramide und auf den protestantischen Friedhof. Samuel Tempes suchte alle Gräber ab, bis er den Spruch, mehr ratend als lesend (um den er jetzt einzig aufgebrochen schien) auf Keats Grab gefunden hatte:

      „Here lies a man whose name was written on water.”

      Auf einmal war die Sonne da. Amseln im Gesträuch der Parkwege nehmen sie als erste wahr, sie hüpfen hinaus auf die Wiese, unbekümmert um die Spaziergänger mit ihren leinegeführten grossen und kleinen Pissern.

      Auf einem Rasen nahe der Ausfallstrasse, die nach Holland führt, steht ein Mädchen in weissem Kommunionkleid, in der Hand ein Schwirrholz an der Schnur. Ein etwas älterer Junge mit Schultasche erkundigt sich vom Rand her verwundert: „Hast du Geburtstag?“ Da scheint das Mädchen auf einmal furchtbar verlegen, als würde es erst jetzt der vielen Fussgänger und Radfahrer gewahr. Das Spielzeug ruht im Gras.

      Holger Ley folgt noch eine Weile der Ringstrasse, bis er in eine stillere in Richtung Nordfriedhof kommt. Parkschöne Bäume und bereits blühende Azaleen vor Villen, an deren Gartentoren sich die edlen Schnauzen Deutscher Schäferhunde präsentieren – er liest und ist beeindruckt: „Ich halte Wacht.“

      Ein anderer: „Hier wohnt ein pflichtbewusster Hund.“

      Da kommt von der Friedhofsallee ihm Myriam entgegen. Vor zwei Wochen wurde ihre Mutter zu Grabe getragen. Noch bevor sie ihn mit dem Zeigefinger zum Grusse anstubst und er ihre Hand einen Moment in seiner Faust verschwinden lässt, weist er nach dem nächsten der Hundeportraits:

      „Schau mal: My home is my castle, my business to protect… Wenn schon die Hunde anfangen, sich englisch zu äussern, wirst du bald die schwarzen Schwäne auf unserm Weiher Rock’n Role tanzen sehen.“

      Sie lächelt ein Weilchen vor sich hin, so gehen sie zusammen stadteinwärts. Von Myriam ein Lachen zu erwarten, wäre ein bisschen viel verlangt, aber sie lächelt, und dieses Lächeln war ihm schon immer Goldes wert.

      „Deinem Vater geht es besser, wie ich höre, ich meine, ich habe ihn auch wieder mit dem Auto gesehen.“

      „O das ist ein Pilot, der fällt immer wieder auf die Füsse.“

      „Warum so hart? Uns ist er ein lieber Nachbar gewesen, beinah ein Freund...“

      Holger, stehenbleibend, fasst Myriam am Ärmel, schaut sie an, so bedrückt wie versonnen. Sie befinden sich, wo der Bunte Garten beginnt mit einzelnen Grabsteinen in einer gepflegten Anlage – dies war einmal der alte Friedhof der Stadt.

      Am Parkrand eine Vogelstation, ein kleiner Zoo exotischer Vögel, ein paar Bänke drumherum… Aus seiner Kordjacke zieht er eine gefaltete Seite der Bildzeitung hervor. „Hör dir das an, Myriam: Der Mensch stammt vom Bären ab – was sagst du jetzt?“

      „Wie bitte? Na, setzen wir uns.“

      „Wenigstens behauptet das ein italienischer Wissenschaftler.“ Womit er denn dem allgemeinen Affenglauben eine beherzigenswerte Alternative anbiete. Ein Grosswildjäger aus Hagenbecks Stadt soll sich sehr befriedigt dazu folgendermassen geäussert haben – liest Holger weiter vor:

      „Die Türken und Armenier lehnen die Bärenjagd völlig ab. Sie sagen: In jedem Bär steckt ein Mensch.

      Wer schon einmal wie ich einen Bär…“ Holger unterbricht sich: „Will sagen, einen versteckten Menschen – erlegt hat, ist vom Anblick eines solchen Wesens erschüttert. Ohne Haut und Krallen sieht eine Bärenpfote aus wie ein Menschenfuss.“

      Einen winzigen Augenblick blickt Myriam entsetzt auf den, der ihr da so schalkhaft vorliest. Ob man ihm nicht irgendwann selbst die Haut abgezogen hat? Doch gleich wieder lächelt sie, nestelt an den Knöpfen ihrer schönen, selbstgestrickten Jacke und flüstert mehr als sie sagt:

      „Nichts mehr zum Spielen, nichts mehr für Kinder, da wär ich doch besser in Amsterdam.“ Dass sie dabei errötete, schien er nicht zu bemerken.

      Holger Ley träumte stets von Sachen, die ihm das Leben nicht so ohne weiteres zu gönnen schien. Zwar seine Bilder fanden bisweilen Beachtung, selbst Myriam schätzte sie. Aber ein holländischer Verwandter, Samuels Vater, als er so eine kolorierte Zeichnung einmal betrachtete, fasste sich an den Kopf:

      „Heerlijk! Das sieht ja aus wie Sodom und Gomorrha. Hat sie einen Titel?“

      „Labyrinth, Onkel Jelle.“

      „Aha,