Miriam Lanz

Unter Piraten


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will mich nicht wiederholen! Von dir lass ich mich nicht an der Nase herumführen. Du bist dem Tode verdammt nahe, Junge, wenn du nicht aufpasst!“, brüllte Blackbeard. Gwyn zuckte zusammen.

      „ An Bord sollst du gehen, Landratte!“

      Über eine Holzplanke betrat sie ihr neues Schiff: die ‚Adventure’.

      Sie fühlte sich wie eine Gefangene als sie an Bord kam und sich umsah.

      „Aus dem Weg, Dreckskerl!“ Ein Pirat stieß sie grob zur Seite.

      ‚Ob es tatsächlich das Richtige gewesen ist?’

       17. Mai im Jahre des Herrn 1713:

      Langsam wurde die zerstörte Fregatte von zwei kleinen Fischerbooten in die Bucht von Kingston gezogen. Am Kai waren unzählig viele Soldaten und Schaulustige zu erkennen, die das Schiff in Empfang nehmen wollten.

      Gedankenverloren und von einer ungewohnten Nervosität ergriffen stand Wilde am Steuerstand der ‚Ventus’, wobei seine linke Hand auf dem Steuerrad ruhte.

       'Wi e wird der Gouverneur reagieren, wenn er von dem Sturm hört?'

      Vielleicht würde er Wilde seine Stellung als Kapitän entziehen, weil zu viele Seeleute durch ihn den Tod fanden - von dem Schaden an der 'Ventus' ganz zu schweigen. Langsam schweiften seine dunklen Augen über das Deck. Sein Blick blieb an Dr. Steward haften, der an der Reling lehnte und auf das Meer hinaus blickte. Körperlich hatte sich der Arzt gut erholt und seine Verletzung am Kopf wurde durch die weiß gepuderte Perücke vollkommen verdeckt.

      Einige Matrosen holten das zerrissene Segel, das nur notdürftig geflickt worden war, ein. „Entschuldigt, Sir!“

      Ein Matrose war an Dr. Steward gestoßen. Es schien, als hätte er den Arzt aus seinen Gedanken gerissen. Er zuckte leicht zusammen, trat einen Schritt beiseite und beobachtete die Männer.

      Wilde hatte den Arzt in den vergangenen Tagen kaum zu Gesicht bekommen. Um so mehr erschrak er, als er ihn sah. Dr. Steward war blass und sah sehr müde aus. Seine freundlich leuchtenden Augen waren matt. Tiefe Falten zogen sich durch sein Gesicht, die ihn um Jahre altern ließen.

      Wilde musste ein Seufzen unterdrücken. Seit dem Tod seiner Nichte hatte Steward kaum gesprochen, nichts mehr gegessen und Wilde hatte ihn nicht einmal mehr rauchen sehen, obwohl der Arzt ein Sklave des Tabaks gewesen war.

      Der Kapitän atmete tief durch, ehe er schließlich vor den Arzt trat.

      „Verzeiht, Sir…“, begann er und stellte sich in steifer Haltung neben Steward. Wenn er so vor dem Älteren stand, war er über einen halben Kopf größer als der Arzt.

      Dr. Steward wandte sich langsam dem Kapitän zu.

      „Was gibt es, Kapitän Wilde?“, fragte er und musterte ihn aus traurigen Augen. Als Wilde ihn hörte, zuckte er kaum merklich zusammen. Seine Stimme war kaum wieder zu erkennen - sie klang so niedergeschlagen, so müde.

      „Wir laufen in den Hafen ein, Sir!“, antwortete Wilde nach einigen Sekunden des Schweigens.

      ‚Was für eine Feststellung. Etwas Besseres konnte dir nicht einfallen?’

      „Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Kapitän. Dennoch danke ich Euch.“ Der Arzt sah wieder aufs Meer, das in der Mittagssonne hell leuchtete. Hinter den felsigen Klippen, weit in der Ferne, konnte man vereinzelt Schiffsmasten und geblähte weiße Segel erkennen. Dr. Steward schüttelte leicht den Kopf und seufzte leise.

      „Wisst Ihr, Gwyn hatte sich so sehr auf Kingston gefreut. Sie hatte schon viel über Jamaika gelesen und konnte es kaum abwarten…“, er schweifte ab.

      „Ich verstehe, Sir“, bemerkte Wilde, dessen Aufmerksamkeit ebenfalls auf die See gerichtet war. „Es tut mir Leid!“

      Dr. Steward drehte sich zu dem Kapitän. Zum ersten Mal seit dem Sturm lag der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen.

      „Ich danke Euch, Kapitän Wilde!“, sagte er und ging.

      Wilde blieb an der Reling stehen und sah wieder auf das unendliche Meer hinaus. Bis weit über den Horizont erstreckte sich die ruhige See.

      An einem Tag wie diesem war es nur schwer vorstellbar, dass das Meer auch ein ganz anderes Gesicht haben konnte, ein tödliches Gesicht.

      ---

      Die ‚Ventus’ hatte in der Bucht geankert. Drei Ruderboote - zwei sehr groß und eines nur für wenige Personen gedacht - kamen zu der Fregatte, legten an deren Backbordseite an und ließen Dr. Steward, Wilde und die übrige Besatzung zusteigen.

      Als der Kapitän den Kai bestieg, kam ein Mann mittleren Alters auf ihn zu. Er trug einen olivgrünen Justaucorps, den knielangen Gehrock, eine elfenbeinfarbige Kniehose und eine gleichfarbige Weste. Auf seinem Kopf thronte eine aufgebauschte Allongeperücke.

      "Kapitän Andrew Wilde? Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen Euch kennen zu lernen!", meinte der Mann lächelnd. Wilde verneigte sich vor ihm.

      „Lord Hamilton , es…“

      „Und Ihr müsst Dr. Steward sein. Es freut mich außerordentlich, Eure Bekanntschaft zu machen, Sir." Lord Archibald Hamilton trat an dem jungen Mann vorbei und reichte Dr. Steward, der direkt nach dem Kapitän den Pier bestieg, die Hand.

      „Ich heiße Euch, hier in Kingston, auf das herzlichste Willkommen, werter Dr. Steward“, begrüßte er den Arzt.

      „Ich danke Euch, Lord Hamilton.“

      Der Gouverneur von Jamaika warf einen suchenden Blick an Steward vorbei zu den Beibooten, die inzwischen alle angelegt hatten. Die meisten Matrosen drängten sich an den Soldaten, die an dem Kai standen, vorbei, um schnellst möglich eine Schenke aufzusuchen.

      „Wo ist denn Eure Nichte? Ich meinte, Ihr hättet geschrieben, dass sie mit Euch kommt“ , fragte der Gouverneur unvermittelt.

      Wilde, der die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte und stumm neben den beiden Herren stand, warf einen kurzen Blick auf den Arzt. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete der Kapitän, er könnte die Etikette vergessen und in Tränen ausbrechen, doch Dr. Steward war Herr seiner Selbst.

      „Meine Nichte ist bei dem Sturm, in den wir vor wenigen Tagen gerieten, verunglückt“, erklärte er trocken.

      „Es tut mir außerordentlich Leid dies hören zu müssen. Mein herzlichstes Beileid, Dr. Steward“, sagte Hamilton mitfühlend und richtete sich dann an Wilde, der von einem leichten Unbehagen befallen wurde.

      „Wie viele weitere Verluste müssen wir durch den Sturm bedauern?“

      „Vierundachtzig arme Seelen. Unter ihnen ist auch Julian Alester, der erste Offizier“, entgegnete Wilde nüchtern.

      „Nach dem Aussehen des Schiffes zu urteilen, muss der Sturm sehr stark gewesen sein. Und dennoch hat ein beträchtlicher Anteil der Mannschaft überlebt. Wilde, Ihr seid ein fähiger Kapitän!“, lobte Hamilton und wies Dr. Steward und den Kapitän zu einer bereitstehenden Kutsche.

      „Vielen Dank, Sir.“ Wilde konnte seine Überraschung bei den Worten des Gouverneurs nur mit Mühe verbergen.

      ‚Was für ein Heuchler!’

      Von der einst einhundertfünfundsiebzigköpfigen Besatzung hatten nur einundneunzig Männer überlebt und das war nach Wildes Empfinden alles andere als ein ‚beträchtlicher Anteil’. Noch vor einigen Minuten hatte er um seine Stellung gebangt und nun schien ihn Lord Hamilton geradezu zu lobhuldigen.

       'Ich hätte es wissen müssen!'

      Niemand würde es wagen, den Sohn des ehrenwerten Admiral Daniel Wilde zu degradieren. Oder auch nur ein schlechtes Wort über ihn zu sagen - zumindest nicht in aller Öffentlichkeit und in seinem Beisein. So war es schon immer gewesen. Man hatte ihm niemals Steine in den