Miriam Lanz

Unter Piraten


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an.

      Der Quartenmeister stapfte zu einer Hängematte unweit von ihr und zog den groben, dreckigen Stoff der Hängematte ruckartig zu sich.

      „Jim, du faules Schwein! Beweg deinen lahmen Hintern an Deck!“

      Der Angesprochene fiel hart auf den Boden. Fluchend erhob er sich und humpelte an Deck.

      ‚Wie widerwärtig, unzivilisiert sich diese Menschen verhalten. Wo bin ich hier nur hineingeraten?’

      Gwyn hätte nie gedacht, dass sie die Etikette und die Gesellschaft jemals vermissen würde. Aber in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als auf einem Bankett am Tisch neben ihrem Onkel zu sitzen und den stumpfsinnigen Gerede der Damen zuzuhören.

      "Du, Taugenichts! Bis´ du taub? An die Arbeit!“

      Eine kräftige Männerhand zog Gwyn am Kragen ihres Hemdes gewaltsam auf die Beine. Keinen Augenschlag später traf sie Howards Hand im Gesicht.

      „Was erlaubt Ihr…“, stieß Gwyn entrüstet aus, biss sich aber abrupt auf die Unterlippe, um sich zum Schweigen zu bringen.

      Howard sah sie erst sichtlich verwirrt, dann wütend an. Dann schlug er Gwyn ein weiteres Mal hart ins Gesicht. Diesmal erwiderte sie nichts, funkelte den Piraten aber hasserfüllt an. Der Quartenmaster stieß sie mit aller Kraft zu den Stufen. Gwyn verlor den Halt und stürzte auf die Knie.

      Als sie sich wieder aufrappelte, hörte sie das höhnische Lachen des Piraten.

      ‚Dreckiger Bastard!’

      An Deck wurde Gwyn von einem Bild empfangen, das sie mit einem Mal zurück auf die

      ‚Ventus’ versetzte.

      Einige Piraten schrubbten das Deck, eine Hand voll Männer polierten die Kanonen. Wieder andere reparierten die Schäden der gestrigen Schlacht. Ein Mann hatte Ruderwache, ein weiterer saß auf der Mars und hielt Ausschau nach Schiffen.

      Gwyns Blick fiel auf ungefähr ein Dutzend Männer, die in der Takelage herumkletterten.

      „Du Hammel! Kannst du gar nichts richtig machen?“ Ein breiter, versoffen aussehender Pirat hatte sich bedrohlich vor einem blonden Jungen, der nur wenige Jahre älter als Gwyn zu sein schien, aufgebaut. Der Junge schüttelte den Kopf.

      „Nein, ich wollte nur…“, versuchte er sich zu verteidigen, doch er verstummte sofort, als Howard mit grimmiger Miene auf ihn zugetreten war.

      „Was is´ hier los?“, fragte er den versoffenen Piraten.

      „Der Nichtsnutz is´ zu blöd für die einfachsten Aufgaben! Er is´ ein faules Schwein!“

      „Nein, ich…“, fing der Junge erneut an.

      „Halt´ s Maul, wenn du nich´ gefragt wirst“, brüllte Howard und schlug den Jungen ins Gesicht.

      „Hör gut zu, Kleiner: wenn mir noch mal eine Beschwerde über dich zu Ohren kommt, dann mach´ dich auf die neunschwänzige Katze gefasst, has´ du verstand´n?“, säuselte der erste Offizier drohend, während er den Jungen am Kragen gepackt hielt. Dieser nickte heftig; seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen.

      Gwyn wandte sich schaudernd von der Szene, die sich vor ihr abspielte, ab.

      Auch wenn ihr der Begriff ‚neunschwänzige Katze’ nicht vertraut war, war dem Gesichtsausdruck des Jungen deutlich zu entnehmen, dass es damit nichts Gutes auf sich hatte.

      Unbeholfen ließ sie ihren Blick über Deck schweifen.

      ‚Was kann ich tun?’

      Langsam ging sie zur Reling und sah aufs Meer hinaus. Sie seufzte schwer.

      Ob es das richtige gewesen war, sich für die Piraterie zu entscheiden? Erst vor wenigen Stunden war sie an Deck gekommen, und dennoch stellte sie sich diese Frage bereits zum wiederholten Mal.

      Gwyn bezweifelte, dass der Tod schlimmer gewesen wäre, als hier her zu kommen. Und vielleicht hätte sie dann im Paradies ihren Onkel wieder gesehen.

      Das Mädchen vertrieb diese Feststellung so schnell, wie sie gekommen war. Es war völlig sinnlos sich jetzt Gedanken über etwas zu machen, dass sich nicht mehr ändern ließ...

      Plötzlich fiel ein gewaltiger Schatten über sie. Erschreckt wirbelte sie herum.

      Blackbeards stechende Augen funkelten sie an.

      „Was haben wir denn hier?“, donnerte er, “Wieso arbeitest du nich´, Kleiner?“

      Die Stimme des Piraten wurde mit jedem Wort lauter. Gwyn zuckte erschreckt zusammen.

      „Nun….ich…man hat mir keine Arbeit gegeben…“, flüsterte sie ängstlich.

      „So, man hat dir keine Arbeit gegeben“, wiederholte der Piratenkapitän misstrauisch. „Howard, komm sofort her!“, brüllte er im nächsten Augenblick, wobei er Gwyn nicht aus den Augen ließ.

      Die kleine, gebückte Gestalt des Quartenmeisters erschien hinter Blackbeards massiger Schulter.

      „Ihr habt nach mir gerufen, Käpt´n?“ Als Gwyn seine näselnde Stimme hörte, sah, wie er in kriecherischer Art dem Kapitän salutierte, dachte sie unwillkürlich an einen Wurm, einen kleinen sich windenden Wurm.

      „Der Kleine sagt, er hätt´ keine Arbeit bekommen. Stimmt das?“ Howard sah Gwyn voller Abscheu an.

      „Natürlich hab´ ich dem da ´ne Arbeit gegeben. In der Kombüse soll er helfen, der Bastard.“

      Gwyns Augen weiteten sich vor Überraschung. Wut loderte heiß in ihr auf und ließ ihr Blut förmlich kochen. Sie begann zu zittern.

      ‚Du verdammter Pirat! Du gottverfluchter Lügner!’

      „Diese verlogene Schlange hat mich vergessen. Ich habe nicht gelogen. Mir wurde keine Arbeit gegeben“, rief sie auf einmal aus, noch bevor sie sich über die Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde.

      Für einige Sekunden konnte Gwyn die Blicke der beiden Männer nicht eindeutig identifizieren. In ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Verwunderung, Ungläubigkeit und Abscheu. Dann aber erstarrten ihre Minen. Howard hatte seine Augen zu Schlitzen verengt und fixierte sie voll Hass und Verachtung. Der dominierendste Ausdruck auf Blackbeards Gesicht jedoch war Ungläubigkeit. Aber noch etwas anderes barg sein Blick, etwas, dass Gwyn nicht eindeutig erkennen konnte. War es Anerkennung?

      „Du hast viel Mut, Kleiner!“, erklärte der Piratenkapitän schließlich. Gwyn hörte den höhnischen Unterton in seiner Stimme allerdings sehr deutlich.

      „Ich bin beeindruckt! Und weil ich deinen Mut, oder besser deine Torheit schätze, sollst du auch lernen mich zu schätzen.“

      Wieder nahm das Volumen seiner tiefen Stimme mit jedem Wort zu.

      Inzwischen hatten sich die übrigen Piraten um Gwyn und ihren Kapitän gescharrt und beobachteten das seltene Spektakel mit Genuss.

      Gwyn zitterte unkontrolliert und verfluchte ihre lose Zunge. Langsam kroch eine unbeschreibliche Angst in ihre Glieder und lähmte sie.

      „Howard!“, brüllte der Pirat.

      Der erste Offizier tauchte erneut mit einer Art Peitsche in der Hand hinter Blackbeard auf, die große Ähnlichkeiten mit einer Pferdepeitsche hatte. Die Piraten waren bei ihrem Anblick beinahe ehrfürchtig zurück gewichen.

      Als Gwyn das Zuchtinstrument für einen kurzen Moment genauer betrachtete, erkannte sie mit Entsetzten, dass es nicht nur eine, sondern neun Riemen besaß, die am Ende jeweils verknotet waren.

      ‚Die neunschwänzige Katze’

      Das Mädchen spürte, dass ihr die Farbe aus dem Gesicht wich; sie zog panisch die Luft ein.

      „Die übliche Strafe für Aufsässige, nehm´ ich an, Käpt´n, was?“ Howard grinste bösartig, wobei er einige faule Zahnstumpen enthüllte.

      „Nein!