Miriam Lanz

Unter Piraten


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ließ sich auf dem gepolsterten Schreibtischstuhl nieder und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Gedanken kreisten um Thayors Bemerkung. Gwyn… der Arzt seufzte schwer. Der Gedanke an seine Nichte trieb ihm Tränen in die Augen.

      ‚Warum? Warum meine Gwyn?’

      Nach einem kurzen Moment, in dem sich Stille über die Praxis gelegt hatte, die nur von dem regelmäßigen Ticken der Standuhr durchbrochen wurde, erhob er sich ruckartig und ging zum Medizinschrank.

      Neben dem Schmerz, dem unsagbaren Schmerz, der mit Thayors unbedachter Bemerkung wiederkam, kehrte auch sein Pflichtgefühl zurück - die Verantwortung, die Steward gegenüber seinen Patienten trug. Zudem kam ihm jede Ablenkung gelegen.

      Der Arzt überflog die Etiketten der Fläschchen und Dosen, um sie -nach Wichtigkeit und Wirkung sortiert- in verschiedene Fächer des Schranks zu stellen.

      Plötzlich rollte eine kleine, runde Flasche über den Rand des obersten Faches. Beinahe wäre sie auf den Boden gefallen, doch einem sicheren Reflex folgend fing sie der Arzt auf.

      Interessiert betrachtete er das Fläschchen von allen Seiten. Der milchig trübe Inhalt leuchtete verheißungsvoll in dem rot-goldenen Licht, das die untergehende Sonne durch die großen Fenster der Praxis warf.

      Dr. Steward war diese Flüssigkeit keineswegs unbekannt. Er konnte sich tatsächlich noch sehr gut daran erinnern. Allerdings hätte er es nicht für möglich gehalten, je wieder Verwendung dafür zu haben.

      Dieses Fläschchen war vollkommen aus seinem Leben verschwunden - und nun hielt er es in seiner Hand, genau wie vor dreizehn Jahren, so als hätte die dazwischenliegende Zeit nie stattgefunden.

      Damals -es war ein regnerischer Herbstnachmittag- kam ein Reisender aus der Türkei unangekündigt in seine Villa. In seinem Gepäck hatte er verschiedene Kräutermischungen, von denen Steward bis dahin nur gehört oder gelesen hatte.

      Der Arzt hatte ihm all seine Arzneien abgekauft - zu einem sehr günstigen Preis. Unter ihnen war auch ein Fläschchen gleichen Inhalts gewesen.

      Auf dem Etikett stand in sehr geschwungener, dünner Schrift ‚Papaver Somniferum’ - Schlafmohn!

      ---

      Andrew Wilde betrat voll gespannter Erwartung, wie er sie das letzte Mal bei seiner Beförderung zum Kapitän empfunden hatte, sein neues Amtszimmer in der Festung der Royal Navy.

      Der gewaltige Schreibtisch zog Wildes Aufmerksamkeit sofort auf sich. Zweifelsohne war er das Schmuckstück des großen Raumes. Er war mit üppigen Schnitzereien verziert - stellenweise war sogar Blattgold eingearbeitet worden.

      Neben dem Schreibtisch stand ein großer Globus in einem Messingständer, durch dessen Hilfe sich die Längen- und Breitengrade verschiedener Standorte ablesen ließen.

      In der dahinter liegenden Wand waren mehrere große Fenster eingelassen, von denen - so nahm Wilde es jedenfalls an - man einen herrlichen Ausblick auf das Meer haben musste. An den übrigen Wänden standen hohe Regale und Wandschränke. Die meisten trugen Bücher. Aber auf einigen Regalen standen Modellschiffe und Navigationsinstrumente.

      Der Raum besaß einen rechteckigen Grundriss. Er war daher nach rechts erheblich länger und bot so Platz für einen kleinen gläsernen Tisch und vier bequeme Sessel auf einem breiten Teppich. Ein weiterer kleiner Holztisch, auf dem mehrere Gläser und zwei volle Karaffen angerichtet waren - eine mit Rotwein die andere mit Brandy gefüllt –, stand an der Wand hinter der Sitzgarnitur. Wilde lächelte stolz.

      ‚Dieses Amtszimmer ist einfach herrlich.'

      Zufrieden ließ er sich auf den gepolsterten Schreibtischstuhl nieder.

      Vor ihm lag ein versiegelter Umschlag, der die Aufschrift ‚Kapitän Andrew D. Wilde’ trug. Der Empfänger öffnete den Brief:

      Donnerstag, den 25. Mai im Jahre des Herrn 1713

      Sehr geehrter Kapitän A.D. Wilde,

      Wir freuen uns, Euch in der Königlichen Kolonie Jamaika begrüßen zu dürfen.

      Wir möchten Euch mitteilen, dass wir in der glücklichen Lage sind, einen kleinen Verbund von drei Schiffen in Eure Obhut geben zu können. Der Name des Flagschiffes lautet ‚Princeps’.

      In Erwartung auf kommende Erfolge wünschen wir Euch Glück und Gottes Segen mit diesem Schiff.

      Hochachtungsvoll

      George Cartwell, Commodore der Royal Navy Ihrer Majestät Königin Anne

      Mit einem stolzen Lächeln faltete Wilde den Brief wieder und schenkte sich ein Glas Brandy ein.

      „Zum Wohl“, murmelte er und erhob das Glas zu seinem Trinkspruch.

      Dann trat der Kapitän an eines der Fenster.

       'Der Ausblick ist atemberaubend!'

      Die Nachmittagssonne färbte das sich bis weit über den Horizont erstreckende Meer golden. In der Ferne erkannte Wilde einige kleine Inseln. Möwen flogen dicht über der Meeresoberfläche. Immer wieder stürzten die Vögel kreischend hinunter, um ihre Beute zu fangen. Schiffe hielten Kurs auf die Bucht der Stadt. Je weiter sie entfernt waren, desto mehr ähnelten sie Modellbauten. Es klopfte.

      „Herein“, rief Wilde in seinem üblichen Befehlston und wandte sich mit einem leichten Widerwillen vom Fenster ab.

      Ein Leutnant öffnete die Tür. Lord Hamilton rauschte an ihm vorbei, dicht gefolgt von einem älteren, uniformierten Mann, dessen Gesicht einer steinernen Maske glich. Als letztes trat auch der Leutnant ein und schloss die Tür.

      „Recht schönen Tag wünsche ich“, begrüßte der Gouverneur Wilde gut gelaunt.

      Der junge Mann nickte. “Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches, Lord Hamilton?“ Noch bevor der Gouverneur antworten konnte, ergriff der ältere Herr das Wort.

      „Lord Hamilton hat bezüglich Eures Pflichtgefühls nicht gelogen. Ich bin Commodore George Cartwell. Habt Ihr meinen Brief erhalten?“

      „Ich las ihn soeben, Sir. Ich möchte mich für Eure Freundlichkeit und das Vertrauen, welches Ihr in mich setzt, bedanken und hoffe, meine künftige Order zu Eurer Zufriedenheit auszuführen.“ Wilde verbeugte sich in einer flüchtigen Bewegung.

      „Gewiss! Etwas anderes lässt sich von Admiral Wildes Sohn nicht erwarten!“

      Cartwells Maske ließ keine Emotion passieren, doch seine kalten Augen schienen den jungen Mann zu durchbohren. Dem Kapitän war dieser Blick nicht unbekannt. Es war der Blick jener Männer, die sich um ihren Lohn betrogen sahen. Der Blick derer, die sich all das, was Wilde zuzufliegen schien, über Jahre hinweg hart erarbeiten mussten. Für einen kurzen Augenblick erwiderte der Kapitän den harten Blick des Commodore, bevor er zu dem kleinen Tisch mit den Karaffen ging.

      Andrew Wilde hatte das unbestimmte Gefühl, sich vor diesem Commodore Cartwell in Acht nehmen zu müssen. In seinen blassen Augen spiegelte sich eine deutliche Abscheu und erweckte den Eindruck eines Mannes, der nur auf den geeigneten Augenblick wartete, um seinen Kontrahenten zu erledigen. Da Wilde dieses Gefühl aber nicht weiter erklären konnte, entschied er sich, Cartwell mit seiner distanzierten Höflichkeit zu begegnen.

      Wilde reichte Lord Hamilton, der in einem der Sessel Platz genommen hatte, und Cartwell ein Glas Brandy und schenkte sich selbst ein weiteres ein, bevor auch er sich setzte.

      „Sir, gehe ich recht in der Annahme, dass Euer Besuch nicht nur eine formelle Begrüßung ist?“, fragte er an den Gouverneur gewandt.

      „Ganz recht, Kapitän! Wir sind hier, um Euch Euren ersten Auftrag zu erteilen.“

      „Wie Euch zweifelsohne bekannt sein wird, nahm die Zahl der agierenden Piraten in diesen Gewässern binnen weniger Jahre signifikant zu. Die Royal Navy der Kolonie Ihrer Majestät überträgt Euch nun die Aufgabe, innerhalb der nächsten Dekade die Piraterie in diesen Gewässern auf mindestens ein Viertel zu reduzieren. Alles andere wäre eine schamvolle Niederlage