Miriam Lanz

Unter Piraten


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mit, ich möchte dir etwas zeigen!“ Gwyn führte Steward zu dem goldenen Fluss. Ein zarter Rosenduft strömte ihnen entgegen. Den Duft, den er so lange nur noch in seinen Träumen wahrgenommen hatte…

      Gwyn blieb stehen. Am Flussufer saß eine Frau. Auch sie trug ein weißes Kleid. Sie war von Steward abgewandt, ihre dunklen Haare fielen in weichen Wellen über ihre Schultern; dennoch erkannte Steward sie sofort.

      „Jane!“

      Die Frau drehte sich um und lächelte. Als sie sich langsam erhob, fiel ein Regen aus goldenen Lindenblättern auf sie herab. Wo sie auf den Boden trafen, zerstoben sie und stiegen als Noten wieder in die Luft. Eine leise Melodie, gespielt von Violinen, ertönte.

      „James!“ Die Frau schloss ihren Ehemann in die Arme.

      Mit einem Mal wuchs die leise Melodie heran, erst langsam und dann immer schneller. Bis der Boden von dem ohrenbetäubenden Lärm zu erzittern schien. Dr. Steward sah sich um. Die Landschaft verlor ihre klaren Konturen. Die Brücke wurde immer undeutlicher bis sie schließlich vollständig verschwunden war. Auch die wunderbare Stadt war nicht mehr zu sehen. Steward wandte sich zu seiner Frau und Gwyn um, doch auch sie waren fort. Plötzlich riss der Boden vor seinen Füßen auf. Der Arzt verlor das Gleichgewicht und stürzte in unendliche Schwärze.

      ---

      Laut kündigten die Kirchenglocken einen neuen Tag an. Dr. Steward riss erschrocken die Augen auf. Er saß wieder in seinem Sessel.

       02. Juni im Jahre des Herrn 1713:

      Gwyn rollte sich müde aus der Hängematte, die man ihr inzwischen zugestanden hatte, und zog ihre Schuhe zu sich heran.

      Seit sie auf der 'Adventure' war, fand sie kaum noch Schlaf. Neben der ständigen Angst, entdeckt zu werden, die sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, waren die Nachtstunden die einzige Zeit des Tages, in der Gwyn nicht vor ihren Gedanken fliehen konnte. Jede Nacht lag sie in dem großen Leinenstoff und rekonstruierte das letzte Gespräch mit ihrem Onkel.

       'Was für eine grausame Ironie. Wie konnte ich die Piraterie nur spannend finden?'

      Doch es war nicht der Inhalt dieses Gesprächs, sondern vielmehr die letzten Worte, die ihr Onkel an sie gerichtet hatte, die sie nicht schlafen ließen.

      ‚Gute Nacht, mein Schatz’ - Gwyn konnte nicht sagen, wie sehr sie ihren Onkel vermisste...

      Ben kroch auf allen Vieren zu ihr; seine Strümpfe und Schuhe schob er vor sich her.

      „Morgen“, meinte Gwyn, noch verschlafen.

      „Wünsch ich auch.“ Ben ließ sich neben ihr nieder und zog sich die Strümpfe über die Füße. „Gut geschlafen?“, fragte er nach einer Weile. Gwyn warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

      „Nicht wirklich.“ Sie erhob sich mühevoll und streckte sich. Ein brennender Schmerz flutete durch ihren Körper.

      Ben sah sie besorgt an.

      „Grad´ wollt´ ich fragen, wie´ s dir geht mit deinem Rücken, aber ich glaub´ ich lass´ es lieber.“ Gwyn nickte und hielt ihm die Hand entgegen.

      „Gute Entscheidung!“, meinte sie, wobei sie Ben auf die Beine zog.

      Als das Mädchen wenige Minuten später in die Kombüse kam, wurde sie bereits von Nick Jordan, einem widerlichen Kerl, der in vielerlei Hinsicht Howard sehr ähnlich war, mit einem grimmigen Gesichtsausdruck erwartet.

      „Du faules Schwein!", rief er und schlug dem Mädchen ins Gesicht.

      Gwyn schloss die Augen und biss auf die Zunge, um nichts zu erwidern, bevor sie begann, die Kartoffeln, die auf dem wackligen Tisch mit der zerschlissenen Tischplatte lagen, zu schälen. Ihre Begegnung mit der neunschwänzigen Katze hatte sie gelehrt, dass es klüger war, den Piraten nicht zu widersprechen.

      ---

      „Käpt´n! Schiff hart auf achtern!“ Der plötzliche Aufschrei des Mastgasts ließ das Mädchen von ihrer Arbeit aufsehen.

      „Welche Flagge?“

      „Englisch, Sir! Ein englisches Handelsschiff!“

      Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Jordan war zur Kombüsentür geschlürft und spähte an Deck.

      „Klar machen zum Entern!“, hörte sie den Piratenkapitän rufen und spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Jordan wandte sich ruckartig um; für einen flüchtigen Augenblick schien sich Furcht in seinen kleinen Augen zu spiegeln. Als sein Blick auf das Mädchen fiel, verzerrte sich sein Gesicht, sodass es einer fratzenhaften Maske glich.

      „Has´ du den Käpt´n nich´ gehört? An Deck!“ Der Koch packte Gwyn gewaltvoll an den Schultern und stieß sie aus der Kombüse. Die meisten Piraten standen mit Macheten, Entermessern oder Pistolen bewaffnet an der Steuerbordseite der ‚Adventure’. Gwyn sah sich hektisch nach Ben um. Der blonde Junge stand zwischen den Kanonen, die Angst in seinem Gesicht war nicht zu übersehen.

       'Oh, großer Gott!'

      Das Mädchen wandte sich ab. Weit vor der 'Adventure' erkannte sie die weißen Segel des englischen Handelsschiffs.

      Von einem seltsamen Gefühl geleitet, das Gwyn nicht erklären konnte, stieg sie langsam und mit schlaksigen Schritten hinauf zum Bug des Schoners. Das Mädchen beobachtete mit wachsender Aufregung, wie sich der Abstand zwischen der Handelsfregatte und dem Piratenschiff verringerte. Als die 'Adventure' dem Handelsschiff so nahe gekommen war, dass das Mädchen den Namen des Schiffes lesen - sie hieß 'Treaty' - und sie die einzelnen Besatzungsmitglieder erkennen konnte, die hektisch an Deck herum rannten, wurde Gwyn von dem alles verdrängendem Gefühl zu fliehen ergriffen.

      „Feuer!“

      Gwyn wirbelte schockiert herum; Blackbeards laute Stimme war unmittelbar hinter ihr. Der gefürchtete Pirat hatte eine alte Machete in die Luft gehoben, seine stechenden Augen waren auf die 'Treaty' gerichtet. Gwyn schien er nicht bemerkt zu haben.

      Nur wenige Augenblicke nach seinem Befehl legte sich der undurchdringbare Qualm der Kanonen über das Deck des Schoners. Das Schiff erzitterte unter der Wucht des Schusses und beißender Schwefelgeruch durchdrang die 'Adventure'. Als die Kanonenkugel unweit der 'Treaty' ins Wasser schlug, zuckte Gwyn zusammen und stolperte gegen die Reling.

      Die Fregatte erwiderte das Feuer mit nur wenigen Schüssen. Dennoch hatte der Qualm der Kanonen binnen kurzer Zeit beide Schiffe erfüllt. Der beißende Schwefel brannte Gwyn in den Augen; sie hustete.

      Die dichten Kanonenrauchschwaden verhüllten die 'Treaty', so als versuche er das Unglücksschiff zu schützen.

      Das Mädchen wollte fort, runter von diesem Schiff, nach Hause. Sie wollte wieder zu ihrem Onkel. Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie kauerte an der Reling, die Augen fest zusammen gekniffen; die Arme schützend über ihrem Kopf.

      Erst eine Kanonenkugel, die pfeifend nur einige Fuß über ihren Kopf sauste und knapp hinter dem Rumpf des Schiffes ins Wasser klatschte, riss sie aus ihrer Starre. Gwyn erhob sich mühevoll und rannte los, erst stolpernd, dann immer schneller.

      ‚Unter Deck!’

      Der schwere Qualm verschluckte beinahe alles um sie herum. Ohne einen Blick auf die übrigen Piraten zu werfen, stolperte sie unter Deck und kauerte sich zitternd auf den oberen Stufen, die hinaus führten, zusammen.

      Offenbar hatten die Piraten die 'Treaty' bereits geentert. Nur noch wenige Männer waren an Deck der 'Adventure'. Gwyn senkte den Kopf auf die Stufen und schloss die Augen. Dieselben markerschütternd gellenden Schreie der Unglücklichen, deren Leben ausgelöscht wurden, und das triumphierende Gebrüll der Piraten, wenn ihre Säbel und Pistolen ein weiteres Leben brutal beendeten, drangen zu ihr. Nach einigen Minuten hob das Mädchen wieder den Kopf. Als sie sich an die beinahe verschwommenen Konturen an Deck gewöhnt hatte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen.

      ‚Die Piraten