Miriam Lanz

Unter Piraten


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Ein Mann, der an vorderster Stelle kämpfte und die Matrosen mit patriotischen Parolen, wie ‚Für das Empire und unsere Königin!’, ermutigte, erlangte Gwyns Aufmerksamkeit. Er trug einen einfachen braunen Anzug und eine dunkle Perücke. Für einen flüchtigen Moment glaubte Gwyn, es handelte sich um Kapitän Bradley.

      Plötzlich erhob sich Blackbeards laute, tiefe Stimme aus dem allgemeinen Lärm. Zwar konnte Gwyn nicht genau verstehen, was er sagte, doch er stand an der Spitze der Piraten und führte sie zu einem erneuten Angriff auf die Seeleute der ‚Treaty’.

      Doch die Besatzung der Handelfregatte war unerwartet stark. Auch Blackbeard schien sie unterschätzt zu haben. Die Besatzung preschte unermüdlich vor. In vorderster Reihe der Kapitän. Von einem seltsamen Gefühl geleitet, dass die Angst und die Anspannung langsam verdrängte, bis es sie vollständig erfüllt hatte, konzentrierte sich das Mädchen auf ihn. Seine Gesten, seine Mimik, all das war Gwyn auf merkwürdige Weise vertraut. Doch sie konnte sie nicht zuordnen. Das alles war so fern. Schon so lange vergessen…

      „Vic? Is´ alles in Ordnung?“ Ben huschte die Stufen hinunter und setzte sich neben sie, wobei sich Erleichterung über seine Gesichtszüge ausbreitete.

      „Ja,… ja mir geht es gut, aber Blackbeard scheint Schwierigkeiten zu haben.“ Sie nickte in Richtung der Kampfhandlung und legte dann den Kopf auf ihre Hände. Sie wollte das Gefecht nicht weiter verfolgen. Zwar lagen an Deck der 'Adventure' keine Leichen - zumindest sah Gwyn keine -, doch das Mädchen war sich sicher, dass sie die furchtbaren Schreie und das Klirren der Macheten bis an ihr Lebensende verfolgen würden.

      Die Piraten wurden immer weiter zurückgedrängt. Als die ersten Enterhaken auf das Piratenschiff flogen, zogen Ben und Gwyn die Köpfe ein.

       'Ich will nicht wegen Piraterie hängen!'

      „Gentlemen, übernehmt das Schiff!“, hörte Gwyn den Kapitän sagen, als er auf dem Deck der ‚Adventure’ Fuß gefasst hatte. Eine neue Woge unbeschreiblicher Angst ließ sie erzittern.

      „Nich´ so schnell, Sir!“ Als das Mädchen Blackbeards triumphierende Stimme hörte, spähte sie überrascht an Deck.

      Der Kapitän der ‚Treaty’ musterte ihn skeptisch. Blackbeard machte eine unwirsche Handbewegung, wobei ein bösartiges Lächeln auf seinen Lippen lag. Die Piraten schnitten den Seemännern, die das Deck des Piratenschiffes stürmen wollten den Weg mit Pistolen und auf sie gerichteten Macheten und Entermessern ab.

      ‚Großer Gott! Wie unglaublich barbarisch!

      Schaudernd schloss Gwyn die Augen und rutschte eine Stufe hinunter. Sie wollte dieses furchtbare Szenario nicht sehen.

      Die Seeleute jagten in die Messer, die die Piraten auf sie gerichtet hatten. Obgleich Gwyn sich die Hände auf ihre Ohren drückte, drangen die Schreie zu ihr.

      Erst als sie von Ben angetippt wurde, hob sie langsam den Kopf, um den Kapitän zu sehen, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

      „Schiff entern!“, befahl der Piratenkapitän ein weiteres Mal, wobei der Kapitän resigniert die Augen schloss.

      Mit siegessicherem Gebrüll stürmten die Piraten an Deck der ‚Treaty’.

      „Armer Kerl“, flüsterte Ben. Gwyn nickte mitfühlend. Sie bemerkte, dass sie den Tränen nahe war.

       'Wie können sie nur so grausam sein?'

      Einige Minuten verstrichen, in denen nur das Gebrüll der Piraten zu hören war, die auf der ‚Treaty’ wüteten. Der Kapitän des Unglücksschiffs stand vollkommen regungslos an Deck. Plötzlich brüllte ein Pirat, der unter Deck gegangen war: „Seht, Käpt´n, was ich gefunden hab´.“ Er zerrte eine Frau hinter sich her.

      „Audrey!“, jappste der Kapitän und trat einen Schritt vor.

      „Michael, hilf mir!“, flehte die Frau.

      „Ein hübsches Frauchen hast du da, Mister!“ höhnte der Pirat.

      „Lass sie gehen. Rühr sie nicht an, du Bestie!“ Der Kapitän war außer sich.

      Einige Augenblicke später stand die Frau neben dem Kapitän und klammerte sich an den Arm ihres Mannes. Sie hatte Tränen in den Augen und zitterte, während ihr Mann versuchte, sie mit leisen Worten zu beruhigen.

      „Wirklich ein schönes Paar, findest du nich´, Howard?“, spottete der Piratenkapitän, „Besonders mit dem Weib könnte man noch etwas anfangen“. Einige Piraten lachten bei Blackbeards Bemerkung auf.

      „Rühr´ sie nicht an, Bastard!“, schrie der Kapitän und stellte sich schützend vor seine Frau „Hab keine Angst, Audrey. Ich werde nicht zu lassen, dass sie dir etwas tun, und wenn ich dafür sterbe!“

      „Wenn das so ist, ...“

      Der Kapitän riss die Augen auf und seine Ehefrau wimmerte.

      Zwei Piraten traten hinter das verzweifelte Paar. Der Kapitän schlang seine Arme um seine Frau und zog sie eng an sich.

      „Ich liebe dich!“, wisperte er. Dann trennten ihnen die Piraten ihre Kehlen durch und ihre leblosen, immer noch eng umschlungenen Körper sackten dumpf auf den Boden.

      Gwyns Kopf ruhte wieder auf ihren Armen. Das unglückliche Paar hatte etwas in ihr wachgerufen, das sie lange vergessen geglaubt hatte. Doch sie konnte diese merkwürdige Empfindung nicht deuten.

      Das Mädchen war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Blackbeard die Besatzung für den Rest des Tages von ihrem Dienst befreite, oder wie das tote Paar ins Meer geschmissen wurde, wie Küchenreste.

      Immer wieder rekonstruierte sie den Tod des Paares bis es ihr schließlich dämmerte: Ihre Eltern waren auf genau die gleiche Art zu Grunde gegangen, nach allem, was sie gehört hatte.

      Ihr Vater, Charles Steward, war Kapitän der Royal Navy gewesen. Bei der Überfahrt von Bristol nach Kingston hatte er Gwyns Mutter Josefine mitgenommen. Keiner der beiden kehrte je von dieser Überfahrt zurück.

      Damals hatte Gwyn in Dartford, in der Nähe von London in einem schönen, großen Landhaus gelebt. Es war ein Nachmittag im Juni gewesen. Sie hatte im Garten gespielt, als sie eine Kutsche vorfahren sah. In Erwartung ihre Eltern nach Monaten endlich wiederzusehen, sprang sie von ihrer Schaukel und lief zur Auffahrt. Ein älterer, uniformierter Mann stieg aus der Kutsche. Er sah freundlich aus.

      „Gute Tag, junge Dame?“, begrüßte er Gwyn.

      „Guten Tag, Sir!“, sagte Gwyn verlegen und strahlte den Fremden an. Die vergangenen Monate waren so eintönig verlaufen, dass sie alles, was von ihrem Tagesablauf abwich, freudig aufnahm.

      „Sag mal, ist das hier, das Anwesen von Charles Steward?“, fragte der Mann.

      „Ja, das ist mein Daddy!“, erklärte Gwyn stolz, wobei sie zu dem großen Mann hinauf sah. „Er ist Kapitän, weißt du. Aber er ist nicht da. Daddy ist mit Mami nach …nach…Kington gefahren, glaube ich. Aber Daddy und Mami kommen bald wieder zurück. Das hat mir Nancy gesagt.“

      Der Mann sah sie mitfühlend an.

      „Wie heißt du denn?“, fragte er schließlich, wobei er sich zu ihr hinunterbeugte.

      „Gwyn!“

      „Gwyneth, wo bist du?“ Eine rundliche Frau kam aus dem Haus. Als sie den Mann sah, verbeugte sie sich tief.

      „Ich bin Commodore Edward Stevens!“, stellte sich der Besucher vor, während er noch immer neben Gwyn kniete.

      „Seid Ihr der Vormund dieser jungen Dame?“ Er deutete zu Gwyn.

      „Oh nein, Sir. Ich bin nur die Gouvernante. Der Vormund von Miss Steward ist, nach ihren Eltern, der Bruder des Hausherrn, Dr. James Steward. Er ist in Bristol ansässig. Aber, Sir, verzeiht meine Frage, was ist passiert, dass Ihr uns besucht und nach dem Vormund von Miss Steward fragt?“ Nancy klang sehr beunruhigt.

      Gwyn sah verständnislos von ihr zu Stevens,