Miriam Lanz

Unter Piraten


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Gwyn noch bei seinem letzten Satz die Hoffnung geschöpft, noch einmal mit dem Schrecken davongekommen zu sein, glaubte sie, als sie die Anweisung hörte, man hätte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.

      Nach Blackbeards letztem Wort wurden die Bewegungen um das Mädchen herum langsamer; die Geräusche tiefer und unverständlich. Sie hörte nur noch das Blut in ihren Ohren pochen.

      Wie durch einen dichten Nebel nahm sie wahr, wie man sie zum Großmast führte, wie man ihr die Weste von den Schultern zog und ihr Hemd am Rücken aufriss.

      Widerstandslos ließ sie sich an den Mast fesseln.

      Das alles erschien ihr wie ein schrecklicher Traum, ein Traum, von dem sie hoffte, im nächsten Moment zu erwachen.

      Mit dem ersten Schlag wurde Gwyn wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Zuerst hörte sie das furchtbare Schnalzen der Peitsche, als sie auf ihre nackte Haut traf und sich in ihr Fleisch schnitt. Gwyn glaubte, ihr Rücken würde lichterloh brennen. Tränen traten ihr in die Augen; sie biss sich in den Oberarm, um nicht laut aufzuschreien.

      Schon folgte der zweite Schlag, noch fester, noch schmerzhafter als der erste. Sie wollte sterben, nur noch diesen Höllenqualen entgehen.

      Beim dritten Schlag schnitten die Riemen tief ins aufgeplatzte Fleisch. Gwyn spürte wie ihr das warme Blut über den Rücken lief. Ihr wurde schwarz vor Augen.

      Beim vierten Schlag riss sie den Kopf in den Nacken. Tausend leuchtende Punkte ersetzten die Schwärze. Ihre Knie gaben nun ganz nach und sie hing nur noch an den Armen. Sie begann zu schreien - ein markerschütternder Schrei, der ihre innersten Qualen wiederspiegelte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie würde sterben, jetzt sofort.

      Beim fünften Schlag, war sie sicher, dass ihr Rücken gespalten war. Ihre Sinne verließen sie und sie sank in gnädige Dunkelheit.

      ---

      Langsam kam Gwyn zu Bewusstsein. Der unsagbare Schmerz auf ihrem Rücken hüllte sie in einen Schleier und drückte auf ihre Sinne. Der einzige Gedanke, den sie in der Lage war zu fassen, schrie wieder nach der gnädigen Bewusstlosigkeit. Sie stöhnte.

      „Hey, du bist ja wach!“ Eine fremde Stimme drang durch den Nebel aus Schmerzen. Gwyn öffnete mühevoll die Augen und drehte langsam den Kopf, um den Ursprung der Stimme zu erkennen.

      Der blonde Junge, den sie an Deck gesehen hatte, saß im Schneidersitz neben ihr.

      Ein Eimer stand neben ihm, in den er gerade ein Tuch eintauchte, um ihr damit gleich darauf vorsichtig über den Rücken zu fahren. Bei der Berührung mit dem kalten Tuch zuckte Gwyn zusammen und presste ihre Augenlider fest aufeinander. Der Junge hielt für einige Sekunden in seiner Bewegung inne, ehe er fortfuhr.

      „Das war wirklich mutig von dir, Blackbeard die Meinung zu sagen“, sagte er schließlich.

      „Wohl eher sehr töricht“, flüsterte Gwyn mit rauer Stimme.

      „Na ja, mag sein, aber dennoch bist du der einzige, der sich so was mal getraut hat. Ich bin für so was viel zu feig.“ Der Junge lächelte sie freundlich an.

      “Ich bin im übrigen Ben. Ben Johnson.“

      „Gw… Vic“ Gwyn rang sich den Hauch eines Lächelns ab. Der Junge nickte und tauchte das Tuch wieder in den Eimer.

      „Tut es sehr weh?“, fragte er nach einiger Zeit.

      „Höllenqualen könnten wohl nicht schlimmer sein“, ächzte Gwyn. Ben nickte mitleidig.

      „Ich dacht´ schon, du würdest gar nich´ mehr aufwachen. Immerhin warst du fast zwei Tage bewusstlos.“

      Gwyn nickte bei den bekannten Worten langsam. Henry hatte auf der ‚Mercatoris’ beinahe das Gleiche gesagt, als sie aufgewacht war. Das alles schien schon so lange her zu sein….

      „Weißt du“, fing Ben wieder an, „der Kapitän wollt´ dich erst an Deck liegen lassen. Einfach so, wie du warst. Aber dann, am Abend, sagte er, ich soll mich um dich kümmern, weil ich doch eh´ zu blöd für was anderes wär´.“

      Gwyn war Bens trauriger Blick bei seinen Worten nicht entgangen.

      „Also… so viel ich weiß, werden nur Leute mit einem gewissen Talent beauftragt, sich um Verletzte zu kümmern.“ Der Junge lachte sarkastisch auf.

      „Ja, dass stimmt vielleicht in der normalen Welt, also bei der Navy oder so, aber sicher nicht wenn man Pirat is´.“

      „Dann bist du also auch nicht gerne hier?“

      „Ich hab´ mich nich´ gerade freiwillig gemeldet, aber ich hatte eigentlich keine große Wahl“, begann er. „Mein Vater is´ vor vier Jahren gestorben. Meine Mutter hat mich vor zwei Jahren vor die Tür gesetzt, weil sie nich´ genug Geld hatte, um uns alle durchzufüttern. Ich hab´ nämlich noch fünf Geschwister. Das erste Jahr hab´ mich mit Tagesarbeit durchgeschlagen. Danach heuerte ich auf einem Handelsschiff an. Na ja, und das wurde vor gut zwei Monaten von Blackbeard angegriffen und ich kam hierher. Das war ja bei dir auch nich´ viel anders, nach dem, was ich so gehört hab´“.

      Gwyn nickte. “Ja, ungefähr so kam ich auch hierher. Nur die Vorgeschichte war ein klein wenig anders.“

      Ben nickte und wandte sich wieder Gwyns verletztem Rücken zu.

      „Kannst du dich aufsetzten?“, fragte er plötzlich „Dann kann ich dir den Rücken verbinden.“

      Trotz schrecklicher Schmerzen ließ Gwyn sich mit einem groben, vergilbten Leinenverband bandagieren.

      „Ich werd´ mal seh´n, dass ich dir was zu Essen besorgen kann“, sagte Ben, als er fertig war. Gwyn nickte, wobei sie erfolglos versuchte ein Stöhnen zu unterdrücken.

      ‚Wenn doch endlich die Schmerzen aufhören könnten.’

      Kaum war Ben verschwunden, sah sie sich zur Ablenkung um. Sie lag an einer Wand in der Mannschaftsunterkunft. Ben hatte ihr ein Lager aus Laken und Stoffen gebaut.

      Am Kopfende lagen ihre Weste und das Hemd.

      Als sich Gwyn das graue Leinenhemd über den Kopf ziehen wollte, stellte sie fest, dass es am Rücken vom Kragen an aufgerissen war. An den Stoffenden war eingetrocknetes Blut.

      Sie schauderte heftig. Ein flammender Schmerz jagte durch ihren Körper, trieb ihr Tränen in die Augen und ließ sie aufstöhnen.

      „Hier. Mehr hab´ ich leider nich´ finden können.“ Ben saß wieder neben ihr und hielt ihr einen kleinen Holzteller, auf dem ein paar Stücke Zwieback lagen und ein Stück Pökelfleisch, entgegen. Gwyn schlug die Augen wieder auf. „Danke!“

      „Gibt es hier Nadeln und Faden?“, fragte sie, nachdem sie den leeren Teller neben sich gelegt hatte. Ben warf ihr einen fragenden Blick zu und Gwyn hielt ihm als Erklärung ihr Hemd entgegen.

      „Oh! Ähm…“, er sah sich um, „ich glaub´ schon, dass es so was hier gibt!“ Er kroch auf allen Vieren zu einer kleinen Truhe nicht weit von Gwyn entfernt. Das Mädchen beobachtete, wie er in ihr herumwühlte und schließlich zurückkroch.

      „Hier“, er reichte ihr eine sehr verbogene Nadel und ein Stück Segelschnur. Er sah Gwyn schweigend dabei zu, wie sie ihr Hemd mit großen, schnellen, unsauberen Stichen zusammen- flickte. Als sie fertig war, musterte sie ihre Arbeit mit unsicherem Blick, zog sich das Hemd aber seufzend über den Kopf, schlüpfte in die Weste und legte sich langsam wieder hin, um unnötige Schmerzen zu umgehen. Ben beobachtete sie immer noch so aufmerksam, wie ein Adler eine Maus kurz vor dem Angriff.

      „Ich weiß nicht, wie ich mich für deine Hilfe erkenntlich zeigen kann“, sagte Gwyn auf einmal.

      „Gar nich´!“, meinte Ben schlicht und grinste. Gwyn schüttelte lächelnd den Kopf.

      Vielleicht würde sie diese verrückte Zeit nun doch überleben, mit Bens Hilfe….

       26. Mai im Jahre des Herrn 1713: