Sabine von der Wellen

Die Narben aus der Vergangenheit


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fragt neben mir mit tonloser Stimme: „Wenn ich Eriks Schicksal bin, was würde dann mit ihm passieren, sollte ich mich für das andere entscheiden?“

      Ich werfe ihr einen schnellen, aufgebrachten Blick zu. Warum fragt sie das?

      „Das kann ich dir nicht sagen. Wenn er dann zu mir kommen würde, könnte ich den Weg sehen, den sein Schicksal dann nimmt. Da du ein Doppelträger bist, ist es besonders schwer klar zu sehen, was passieren wird und was das Schicksal dann für Erik bereithält.“

      Sie wendet sich an mich: „Ich kann zu diesem Zeitpunkt nicht klar erkennen, ob ihr zwei zusammenbleibt und was für dich vorgesehen ist. Es ist alles wie in einem dunklen Meer eingeschlossen und ich kann nicht bis auf den Grund des Wassers sehen. Ich sehe nur dein jetziges Leben mit Carolin und dass auch noch etwas anderes für sie vorgesehen ist.“

      „Aber hat dann nicht jeder mehrere Schicksale in sich?“, fragt Carolin.

       Madame Moinette scheint einen Augenblick unentschlossen zu sein, was sie uns sagen soll, beginnt dann aber: „Wir haben alle einen festen Plan, dem wir folgen sollen. Es gibt Bestimmungen im Leben, die wir trafen, als wir dieses Leben wählten und welche, die uns auferlegt werden, während wir dieses Leben zu meistern versuchen. Ich kann nicht immer klar erkennen, was uns vorbestimmt ist und was wir selbst steuern. Ich kann es nur zu interpretieren versuchen. Und die Doppelträger bringen alle vorgegebenen Wege immer wieder ins Wanken, und erschweren uns das Sehen und Deuten erheblich, denn in ihnen leben wahrscheinlich zwei Seelen, die ihren Weg suchen. Genau wissen wir das nicht. Auch uns offenbart sich nicht alles und in seiner ganzen Klarheit.

      Bei dir, Erik, sehe ich ein dunkles, graues Leben, das du aber dem Licht zuführen sollst. Das wurde dir aber erst möglich, als du auf Carolin getroffen bist. Darum setzt du alle Hoffnung in sie und deshalb glaube ich, dass Carolin für dich ein fest vorgegebener Weg für dein Leben ist. Das ist, was ich jetzt sehen kann. Aber irritierend ist für mich der Punkt, dass zum jetzigen Zeitpunkt deine Kinderlosigkeit seltsam hervorsticht. Ich weiß nicht warum, und auch nicht, wieso das so vordergründig erscheint. Es drängten sich schon oft bei meinen Sitzungen Kinder in meine Wahrnehmung, aber noch nie Kinderlosigkeit. Und ich spüre klar, dass du niemals auch nur einen Gedanken an Kinder verschwendet hast und daher kein übergeordneter Kinderwunsch präsent ist.“

      Ich starre in die Augen der Frau vor mir. Ich verstehe diese Kindergeschichte auch nicht und dass mit den Doppelschicksalsträgern ist der pure Wahnsinn! Sie bringen den Verlauf der Welt ins Wanken und Carolin soll so eine sein?

      „Und bei dir, Carolin“, wendet sie sich von mir ab, „drängen sich diese Kinder in den Vordergrund, obwohl ich bei dir einen enormen Widerwillen gegen Kinder spüre. Aber du bist Doppelträger. In dir ist etwas, was dich leitet und in eine bestimmte Richtung drängen will … zu einem bestimmten Weg.“ Sie klingt verstimmt, als sie leiser raunt: „Eure Geschichte … das, was ich sehe und was ich bei dem Doppelträger, der vor euch bei mir war, sah, irritiert mich. Es ist auch mit ihm eine Seelenverwandtschaft vorhanden, aber in einem für mich unerklärlichen Zusammenhang. Ich bin damit etwas überfordert. Aber ich versuche es zu verstehen.“ Einen Augenblick scheint ihr die Konzentration abhanden zu kommen. Dann fährt sie fort: „Ich sagte gestern schon, dass in dir etwas schlummert, das deinen Weg beständig zu bestimmen versucht, obwohl ich ihn nicht als guten Weg empfinde. Es sind zwei Schicksale daran gekoppelt, von denen einer der andere Doppelträger ist. Ich kann nicht klar erkennen, was es damit auf sich hat und verstehe nicht ganz, warum diese zwei Kinder so wichtig darin bestand haben. Ich sagte ja schon, sie sind von zwei verschiedenen Vätern und entschuldigt, dass ich das sage - das eine ist keine Konstellation, in der man Kinder zeugen sollte.“

      Ich verstehe nur noch Bahnhof. Doppelträger, vorgegebene, selbstbestimmte, gute und schlechte Wege, Kinderlosigkeit und Kinder mit mehreren Vätern, die in trauter Mehrsamkeit zusammenhausen und besser keine Kinder zeugen sollten …

      Ich versuche alles noch einmal auf einen für mich verständlichen Punkt zu bringen, aber Madame Moinette spricht weiter: „Außerdem steht etwas Dunkles dahinter, das ich als Bedrohung ausmache, aber nicht klar definieren kann. Es ist alles so verworren und als wolle ein Schleier es unsichtbar machen.“

      „Okay“, sage ich leise. „Heißt das, dass allein bei Carolin die Entscheidungskraft liegt, weil sie mein Schicksal, aber auch das von zwei anderen ist?“

      „Die wahrscheinlich beide auch Doppelträger sind. Ja. Eine unglaubliche Häufung, die mir so noch niemals untergekommen ist. Ich bin etwas verwirrt darüber, kann es aber nur so deuten“, gesteht die Frau vor uns und scheint einen Augenblick in eine andere Welt abzutauchen. Leise murmelt sie, eher an sich selbst gerichtet: „Wir wissen zu wenig über diese Doppelschicksale, ihre Ursache und ihre Entstehung.“

      Langsam geht mir diese Doppelgeschichte wirklich auf den Geist.

      „Aber ich bin definitiv eins ihrer Schicksale?“, frage ich geradeheraus.

      „Offensichtlich.“

      „Gut, wenn sie sich also für mich entscheidet, wird unser Schicksal sich erfüllen, wie es auch immer weitergeht?“

      „Genau“, sagt Madame Moinette.

      „Frau Moinette, und ich habe keine Mitbestimmungsgewalt?“, frage ich mürrisch noch einmal nach.

      Sie sieht mich seltsam an und antwortet: „Aber natürlich. Wenn du sie verprügelst und betrügst wird sie dich verlassen und sich dem anderen Schicksal zuwenden. Das ist, was du selbst bestimmen kannst und was den Weg von deiner Seite aus ändern kann. Auch wenn ihr Schicksal sagt, dass ihr zusammen alt werdet.“

      Ihre Worte sind wie ein Hieb ins Gesicht. Ich werde Carolin niemals schlagen oder betrügen. Aber sie muss einiges bei mir aushalten, dass ich nicht ändern kann und das jede andere, die wählen könnte, schon längst in die Flucht geschlagen hätte.

      Carolin flüstert neben mir „Und was können die anderen tun, damit sich das Schicksal zu ihren Gunsten wendet?“

      Madame Moinette sieht von ihr zu mir und dann wieder Carolin an. „Ich sagte schon, dass du ein Schicksal in dir trägst, das mächtig ist und nicht nur von Betroffenen herbeigesehnt wird, sondern auch von Außenstehenden, die aus der Erfüllung Kapital schlagen wollen. Dem zu widerstehen und dagegen anzukämpfen kann eure ganze Kraft fordern und die anderen letztendlich gewinnen lassen, wenn ihr nicht stark genug seid.“

      Ihre Worte winden sich wie klebriger Schleim in meinem Kopf. Carolin hatte nichts davon erwähnt, dass es da auch noch irgendwelche anderen Einflüsse gibt, die sie in das andere Schicksal drängen wollen. Von was oder wem sprechen die beiden?

      „Sie sagen, es betrifft zwei Männer. Aber es ist doch nur ein Schicksal“, sage ich und versuche das Ganze irgendwie zu verstehen.

      „Deren Leben ist unweigerlich miteinander verbunden. Die beiden Männer tragen das gleiche Schicksal, dass bei Erfüllung dann für jeden einzelnen weitergeht, ohne die Verbindung zu Carolin zu verlieren. Und es ist ihr Schicksal, mit beiden gleichzeitig verbunden zu sein“, antwortet die Frau vor uns.

      „Hä? Wie, sie ist dann mit beiden zusammen?“, frage ich aufgebracht.

      „Was ich sehen kann … sie ist mit beiden fest und ausschließlich verbunden. Das sehe ich klar … und die Kinder, die daraus entstehen werden, und die seltsam Wichtig über Allem zu thronen scheinen. Aber solange ich nicht weiß, welches Schicksal Carolin zur Erfüllung bringt, kann ich nicht sehen, wie es weitergeht.“

      Carolin sieht völlig überfordert von mir zu der Frau vor uns. Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich von verunsichert in mürrisch und ich sehe Madame Moinettes Augen zu ihr wandern und sie mustern. Fast scheint es um uns herum zu knistern.

      „Gute Einstellung. Ich sagte dir gestern schon, das ist ein guter Weg“, raunt sie Carolin mit weicher Stimme zu, ohne dass diese auch nur ein Wort gesagt hat.

      Carolin wirkt kurz verdutzt und ich versuche zu ergründen, was hier gerade vor sich geht. Dann nickt Carolin kaum merklich und sieht mich an.

      „Und nun geht. Ich habe euch alles erklärt, was