Wolf Thorberg

Tödliche Sure


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an den Teppich gelangen.«

      Dastans Lid begann zu zucken, wie immer, wenn er nervös wurde. »Ihr wollt, dass ich ihn stehle?«

      Tabrizi beugte sich zu ihm. »Ich weiß, du bist Soldat und kein Dieb. Doch bedenke: Der Teppich gehört uns, der Umma, und nicht einem Kafir. Der Deutsche ist nur ein Hehler und der Eigentümer, der zurückholt, was ihm gehört, der ist kein Dieb.«

      »Natürlich«, sagte Dastan, noch heftiger mit dem Lid zuckend. »Aber wenn er … die Wegnahme bemerkt und Nachforschungen anstellt?«

      Tabrizi musterte ihn verständnisvoll. Bei Dastans letztem Einsatz im Irak sollte ein Auto mit Terroristen angegriffen werden. Aus Gründen, die nur Allah kannte, hatte Dastan stattdessen einen Kleinbus mit Schulkindern in die Luft gesprengt. Der abgetrennte Kopf eines der Kinder war unweit seiner Füße gelandet. Wenn jetzt das Lid zuckte, war es die Erinnerung an den Kopf im Staub vor ihm.

      »Dastan«, sagte Tabrizi. »Auch Khalil musste …unangenehme Dinge tun. Ich kann keinen Kommandanten brauchen, der verlernt hat zu töten, wenn es sein muss.«

      Dastans Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Ich verstehe.«

      »Wirklich? Denkst du daran, dass alle Leiden – sogar der Tod – bedeutungslos sind angesichts der Ewigkeit, für die wir uns bewähren müssen, und der Belohnungen, die auf uns warten? Dass auch alle Qualen, die wir den Ungläubigen und Feinden Allahs zufügen, belanglos sind angesichts der Torturen, die die Kuffar in der Hölle erwarten?«

      Dastan nickte heftig. »Habt keine Sorgen. Ich werde alles tun, was notwendig ist.«

      Tabrizi war noch nicht überzeugt. Er griff unter seinen Umhang und in die Jacke darunter. Aus der Innentasche zog er ein verschlossenes Aluminiumkästchen, in dem, wie alle in der Tekke wussten, ein schwarzes Notizbuch steckte. Es war das Buch, in dem er Allah am Jüngsten Tag Hinweise geben würde auf Höllenstrafen, die sich Seine Feinde verdient hatten, aber auch auf Erleichterungen für die treuesten Diener.

      »Weißt du, was ich für dich darin notieren werde?«, fragte er. »Jene Kinder, sie sollen dich mit Blumen empfangen im Paradies – wenn du ihn beschaffst.«

      »Das … würdet Ihr tun?«

      »Weil du es verdienst! Wäre es nicht passiert, wärst du in der Armee geblieben. Du könntest den Teppich nicht zurückholen und Allahs Wille könnte sich nicht erfüllen. Selbst unsere Fehler sind Teil Seiner Pläne, Dastan. Nur Zweifel und Schwäche, die verzeiht Er niemals.« Tabrizi beugte sich noch weiter vor. »Ab jetzt, mein Bruder, sind wir im Heiligen Krieg.«

      Die letzten Stunden hatte Rahim mit Tagträumereien vergeudet, unterbrochen von seinem Alten, der ihn piesackte, wann er endlich einen Job bekäme. Woher sollte er das wissen? Inschallah. Niemand wollte ihn, draußen nicht und hier nicht. Studieren? Sein Abiturschnitt war drei Komma vier, trotz Büffelei war er der Schlechteste des Jahrgangs gewesen.

      Verloren spielte er mit Zahras Taschenspiegel. Ein billiges, goldfarbenes Plastikding mit aufgedruckten Arabesken auf der Rückseite, wie es sechzehnjährige persische Mädchen eben besaßen. Rahim jedoch sah darin das Geschmeide einer Prinzessin. Er hatte den Spiegel von der Bank geklaubt, die sie fluchtartig verlassen hatte, nachdem er sie an seinem letzten Abend in London im Garten der Tekke überrascht hatte. Natürlich wollte er ihn zurückgeben, war nur nicht dazu gekommen. Der Spiegel beschwor jedes Mal ihren Anblick herauf, das glänzend schwarze, von einem Kopftuch verhüllte Haar, das zarte Gesicht und die Formen, die sich unter der Kleidung abzeichneten und das Paradies auf Erden versprachen.

      Nicht für ihn natürlich. Verbittert legte er den Spiegel zurück in die Schublade, stellte eine CD mit sanfter Trommelmusik an. Er begann sein abendliches Dhikr, sein Gebetsritual, und rezitierte die neunundneunzig schönen Namen Allahs. Bei »Oh Al-Mujib, du Erhörer aller Gebete« vibrierte sein Handy. Einerseits durfte er die Gottesandacht nicht unterbrechen. Aber dass ihn jemand anrief, war ungewöhnlich. Dazu noch eine Auslandsnummer. Sein einziger Gedanke war: Zahra. Sie hatte herausgefunden, dass er ihren Spiegel hatte.

      »Zahra, ich …«

      »Zahra? Hier ist Dastan«, meldete sich eine männliche Stimme auf Englisch. »Wir haben uns in London kennengelernt, erinnerst du dich?«

      Rahim wurde nicht nur rot, er war fassungslos. Was in aller Welt wollte der Chef von Tabrizis Leibgarde von ihm? Wie die anderen Wettbewerbsgewinner hatte er mit den Assassinen, wie sie sich nannten, ein paar Ausflüge unternommen und gegrillt. Dastan jedoch war meist abseits geblieben, in Rahims Erinnerung ein stiller, unheimlicher Typ.

      Er kramte mühsam sein Englisch hervor. »Ja, klar erinnere ich mich.«

      »Hör mal, Bruder, du hast mit unserem verehrten Scheich gesprochen damals und einen guten Eindruck auf ihn gemacht.«

      In Rahims Kopf sprang eine Batterie Flutlichter an. All die düsteren Gedanken von vorhin schienen plötzlich zu jemand anderem zu gehören, einem, den er kaum kannte, ja, für den er sich schämte.

      »Das ist … eine unglaubliche Ehre.«

      »Das ist es, Junge, das ist es. Sag: Bist du wahrhaft ein treuer Diener Allahs?«

      »Aber natürlich.«

      »Und bist du verschwiegen oder ein Klatschweib?«

      »Klar bin ich verschwiegen.«

      Rahim war bewusst, dass sein Leben eine rasante Wendung nahm. Und er war davon überzeugt: Wohin auch immer sie ihn führte – zum Schlechteren ginge es beim besten Willen nicht.

      »Bist du bereit, uns einen Gefallen zu tun?«

      Heiliger Ernst lag in Dastans Stimme.

      »Ja, alles.«

      »Es geht um etwas … ungeheuer Wichtiges und so Geheimes, dass du es bei deinem Leben und dem Heil deiner Seele niemals verraten darfst. Schwörst du das?«

      Rahim zuckte nun doch zusammen. Was wollten sie von ihm? Etwa … Seine Gedanken drehten sich wie ein Kreisel, blieben dann stehen wie das Rad eines Roulettes. Was spielte es für eine Rolle?

      »Ja, ich schwöre es.«

      »Also hör zu! Es geht um einen Teppich.«

      4

      Natürlich musste ich mich weiterhin um Coretech kümmern. Doch heute, an dem Tag, an dem Eschenbach zurück in Deutschland erwartet wurde, zog ich stattdessen seine Akte hervor.

      Der Stand bis hier war: Die Galerie nahm ein dreistöckiges Haus in einer guten Gegend ein, eine Glas- und Edelstahlgeschichte, die nichts mehr mit Omas verstaubtem Teppichladen zu tun hatte. Eschenbach war über die Jahrzehnte aufgestiegen zu einer Koryphäe, die Gutachten für Sotheby’s erstellte. Er veranstaltete Vernissagen, empfing Teppichkenner aus nah und fern und zählte den besseren Teil des süddeutschen Geldadels zur Kundschaft.

      Zumindest bis vor kurzem. Denn – Kapital ist ein scheues Reh – sein Faible für Extraterrestrik hatte bereits heftige Bremsspuren in den Geschäften hinterlassen, als er sich noch nicht von wem auch immer verfolgt fühlte. Zu seiner, nun, ungewöhnlichen Seite fand ich Folgendes: Er hatte Vorträge gehalten in der eigenen Galerie zu Themen wie: »Teppiche einmal anders betrachtet – Existiert eine nichtmenschliche Mathematik?« Außerdem hatte er einen Gastbeitrag für ein Ufomagazin verfasst und zählte sich zu den Facebook-Freunden des Präastronautikexperten und Bestsellerautoren Erich von Däniken.

      Der Mann und seine Theorie, über die ich gerne mehr erfahren hätte. Doch da fand ich leider nur Schlagworte. Immerhin berief er sich auf einen leibhaftigen Mathematikprofessor, einen bibelbärtigen, leicht entrückt wirkenden Herrn Yamamoto von der hiesigen Universität. Doch seiner Homepage zufolge beschäftigte dieser sich ganz seriös mit algorithmischer Algebra und Zahlentheorie, was immer dies war. Mathematik war nie meine Leidenschaft gewesen. Auf der Suche nach Belegen für Eschenbachs geistige Normalität schickte ich dem Professor trotzdem eine E-Mail. Auf sie antwortete er jedoch, er betreibe dies nur als theoretische Spekulation,