Burkhard Simon

Der Kruse


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Kapitel

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      „Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.“

      (André Gide)

      Nachdem ich meine Wunden versorgt, mein Ego notdürftig wieder aufgebaut, und die verbliebenen Reste meines stark ramponierten Selbstwertgefühls durch Selbstgespräche und viel zu laute Musik aufgepumpt hatte, gelang es mir schon bald, wieder an etwas anderes als den missglückten Abend im Keller zu denken. Zwar war ich noch immer nicht wirklich in Partystimmung, aber ich dachte wieder an Dinge, wie meinen fertig gepackten Koffer, an das Ticket in meiner Brieftasche, an meinen frisch verlängerten Reisepass und an die Unmengen von Sonnenöl, die ich während der nächsten Wochen zu verbrauchen gedachte.

      Als ich mir der Tatsache bewusst wurde, dass ich seit Tagen nicht mehr in den Briefkasten geschaut hatte, ging ich zum Gartentor, wo ich neben einem daumendicken Stapel Werbebroschüren auch ein offiziell aussehendes Schreiben einer mir unbekannten Anwaltskanzlei aus dem Kasten zog. Jetzt war es also amtlich.

      Karin hatte sich einen Anwalt genommen und wollte die Scheidung.

      Nach Auskunft eines Herrn Schneider, seines Zeichens Rechtsbeistand meiner Noch-Ehefrau, eröffneten sich mir zwei unterschiedliche Möglichkeiten, in den finanziellen Ruin zu gehen, von denen ich mir nun eine aussuchen sollte. Erstens war da die Variante, monatlich eine obszöne Summe an Unterhaltszahlungen zu leisten, damit meine treusorgende Ehefrau nach der Trennung von ihrem langjährigen Lebenspartner neben dem erlittenen seelischen Schmerz nicht auch noch finanziellen Schiffbruch erleiden müsse. Möglichkeit Nummer zwei bestand in einem hässlichen Streit vor Gericht, bei dem ich dann – wenn es nach dem Willen dieses Winkeladvokaten ginge – wahrscheinlich noch mehr Federn lassen würde, als bei der ersten Variante. Ferner war es so nett, mich darauf hinzuweisen, dass es im Zuge einer solchen Verhandlung auch zur Erwähnung peinlicher Details des täglichen Zusammenlebens seiner Klientin mit mir kommen würde. Es seien Details, die doch eher in den privaten, intimen Bereich gehörten, und nach Meinung des Anwalts auch dort belassen werden sollten, weshalb er mir dringend zu einer außergerichtlichen Einigung bezüglich der Unterhaltshöhe raten würde. Er erwähnte weiter, dass man sich doch in Freundschaft trennen und zu einer für beide Parteien zufriedenstellenden Lösung kommen solle. Ferner sprach er von einer vernünftigen Entscheidung zweier reifer und intelligenter Charaktere, die es jetzt finanziell zu untermauern galt.

      Arschloch.

      Aber solche Briefe machen nachdenklich.

      Es war ganz offensichtlich vorbei mit Die Kruses.

      Fand ich es noch vor ein paar Stunden extrem verlockend, für eine Weile einfach nur Robert zu sein, so hatte die Geschichte nunmehr auch eine verunsichernde, ja fast schon bedrohliche Komponente erhalten. Und dabei ging es mir primär gar nicht ums Geld. Es ging um mein zukünftiges Leben im Allgemeinen.

      Da war die bereits erwähnte Unsicherheit, aber da war auch – tief in mir drin, verschüttet von gefühlten vierhundert Jahren Monotonie und Stumpfsinn – so etwas, wie Aufbruchstimmung. Es war die Art von Gefühl, die ich als dreizehn Jahre alter Junge hatte, als ich auf dem Zehnmeterbrett im Schwimmbad stand. Erfüllt von Aufregung und wissend, dass das, was vor einem liegt, entweder unfassbar gut oder in gleichem Maße unfassbar mies werden konnte, je nachdem, wie clever man sich in der nächsten Zeit anstellte. Ich erinnerte mich daran, dass ich damals, sehr zu meiner Schande, mehrmals den Weg nach unten über die Treppe gewählt hatte. Heute war das nicht möglich. Karin hatte mich geschubst.

      Es gab keine Treppe mehr und mir wurde bewusst, dass ich mich bereits im freien Fall befand.

      Nun, da konnte ich den Flug genau so gut genießen.

      Ich würde mir ebenfalls einen Anwalt besorgen müssen, denn alleine hätte ich wohl gegen einen Rechtsverdreher wie diesen Herrn Schneider von der Kanzlei Herburg, Schneider & Kottke keine Chance.

      Hier ging es nicht mehr darum, wer wen verlassen hatte, nicht darum, warum es überhaupt zu der Trennung kam, es ging um nichts dergleichen. Es schien überhaupt niemanden mehr zu interessieren, wer hier im Recht oder im Unrecht war, wer überreagiert hatte, und wer in einem trunkenen Moment, vollkommen übertölpelt und missverstanden, der Lächerlichkeit preisgegeben worden war. Hier ging es nur noch um Geld. So einfach war das. Hier ging es um meine finanzielle Zukunft. Ja, um meine finanzielle Zukunft. Unsere finanzielle Zukunft war nun vorbei. Es gab ab sofort nur noch meine und ihre. Zwei getrennte Angelegenheiten. Und warum? Weil ich mit meiner Frau in die Karibik fahren wollte?

      Nein. Nein, das konnte nicht sein. Vielleicht waren Karin schon seit geraumer Zeit ganz andere Dinge auf den Geist gegangen. Dinge, von denen ich nicht den geringsten Schimmer hatte. Vielleicht hatte sie ja auch – von mir unbemerkt – nur nach einem Grund gesucht, aus dem sie mich demütigen, zu ihrer Mutter ziehen, mich finanziell zugrunde richten, mich im Keller bei besoffenen Gymnastikübungen überraschen und schließlich, quasi als Krönung, verlassen konnte.

      Jedenfalls nahm ich den Brief der Kanzlei Humbug, Scheißer & Kotze, faltete ihn säuberlich, steckte ihn zusammen mit Karins Passfoto, das ich noch immer bei mir trug in einen Umschlag, beschleunigte meinen „Ersatzpimmel“ auf gut einhundertdreißig Kilometer pro Stunde, warf alles zusammen in hohem Bogen hinter mich und schaute im Rückspiegel zu, wie ein vollbeladener Vierzigtonner die Überreste meiner Ehe mit seinen Zwillingsreifen über die A3 in Höhe der Ausfahrt Siebengebirge verteilte. Wenn dies schon ein Neuanfang werden sollte, dann auch einer ohne Ecken und Kanten. Eine runde Sache, eben.

      Ich weiß. Es war dumm, saudumm sogar, aber was soll ich sagen? In diesem Moment fühlte es sich richtig an. Verdammt richtig. Und so gut.

      Sechstes Kapitel

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      „Der Zufall ist vielleicht das Pseudonym Gottes,

      wenn er nicht unterschreiben will.“

      (Anatole France)

      Ich denke, jetzt haben Sie eine relativ gute Vorstellung davon, wie ich mich damals fühlte.

      Ich war halt ein echt cooler Single, extrem männlich, und ich hatte durch die Angelegenheit mit dem Anwaltsschreiben und meiner nächtlichen Motorrad-Tour ein Erlebnis genossen, das mir ein völlig neues Selbstwertgefühl verlieh.

      Drei Tage später befand ich mich bereits an Bord der Sonne des Südens, und ich kann Ihnen sagen, dass das Schiff exakt so aussah, wie es die Broschüren und das Plakat im Eingang des Reisebüros versprochen hatten. Es war wahnsinnig groß, wahnsinnig luxuriös und wirklich verdammt cool. Ein schwimmendes Riesenhotel, umgeben von einem schlicht unendlichen Pool von Küste zu Küste, von Kontinent zu Kontinent.

      Wenn ich nun sage, dass wir uns drei Tage später in unserer kleinen Geschichte befinden, ist das allerdings nur eine grobe Schätzung, denn Zeit ist – wie schon Einstein feststellte – eine ziemlich knifflige Sache, vor allem, wenn man bedenkt, dass außer den Faktoren der Bewegung im Raum, der Gravitation und der von den Menschen eingerichteten Zeitzonen, auch noch der Faktor des persönlichen Erlebens dazukommt.

      Es ist bei weitem nicht nur die Zeitverschiebung, die einen bei einer Reise in die Vereinigten Staaten fertig macht. Der Übertritt in eine andere Zeitzone hilft zwar nicht unbedingt aber was einem richtig zusetzt, sind die Bekanntschaften, die man auf einer solchen Reise zu schließen gezwungen ist.

      Ich war aufgekratzt, wie ein Kind vor seiner Geburtstagstorte, als ich in Frankfurt in den Flieger stieg. Immerhin war der Tag meiner Abreise ja tatsächlich mein Geburtstag (eine weitere Finesse, die Karin scheinbar nicht zu würdigen wusste), und so fand ich es nur angemessen, ein wenig zu feiern. Ich hatte einen angenehmen Flug in die Staaten, (den ich meist schlafend verbracht hatte) und einen mehrstündigen Zugtransfer durch die Nacht hinter mir, während dem mir klar wurde, dass eine Buchung im Schlafwagen nicht zwingend bedeuten muss, dass man auch tatsächlich schlafen wird.

      In den Abteilen links und rechts von mir hatte sich ein Duisburger Kegelclub eingenistet, der den Begriff Schlafwaggon nicht ganz