Burkhard Simon

Der Kruse


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Alles, was ich dazu sagen kann ist, dass ich irgendwie nach all dem Zinnober noch immer nur ich bin. Aber ich greife vor. Gehen wir die Sache der Reihe nach an.

      Stand der Dinge: Ich sitze in einem Hotelzimmer, welches exakt die sterile und unpersönliche Ausstattung vorzuweisen hat, die scheinbar den Standard für die anonyme Mittelklasse markiert. Da wäre ein leise brummender Minikühlschrank im Nachtschränkchen, ein fest an der Wand verschraubter Fernseher, Bettwäsche wie im Krankenhaus, Tapeten wie im Seniorenstift und eine Fernbedienung in der Nachttischschublade, die ich für nichts auf der Welt anfassen würde. Ich meine, wer weiß schon, wer hier vor mir wohnte, welche zahlungspflichtigen Programme sich meine Vormieter über den fest verschraubten Fernseher an der Wand anschauten und wie es um die Handhygiene dieser Menschen bestellt war, nachdem... sie wissen schon. Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass Hotel-Fernbedienungen regelmäßig von qualifiziertem Fachpersonal desinfiziert werden?

      Sehen Sie? Ich auch nicht. Es ist ekelhaft.

      Dass in der selben Schublade tatsächlich auch eine Bibel liegt (ich wusste gar nicht, dass sich hier in Bayern noch immer in jedem Hotelzimmer eine Bibel findet) betrachte ich als Zeichen von gelebtem Liberalismus. Es ist scheinbar so, dass selbst hier in Bayern, südlich des Weißwurstäquators, heutzutage die Maxime lautet: „A jeder, wie er mog.“

      Das bedeutet im Klartext, dass man in der Schublade des Nachtschränkchens für den ersten Gast die heilige Schrift mit den zehn Verboten hinterlegt, während man für den nächsten Gast eine Fernbedienung mit ihren weniger kirchenfesten Verheißungen aus dem morastigen Becken menschlicher Schwächen und Gelüste bereitstellt. Und damit sind wir eigentlich auch schon mitten im Thema. Schauen Sie, es gibt heutzutage einfach keine klare Linie mehr! Nichts hat mehr Bestand, da ist nichts mehr, an dem man sich orientieren oder nach dem man sich verlässlich richten könnte.

      Jeder, wie er will, alle dürfen alles, keiner muss gar nichts, und wenn dann am Ende die Rübe völlig matschig ist, entscheiden wir telefonisch für fünfzig Cent pro Anruf darüber, wer sich ab dem heutigen Abend offiziell als „Superstar“ bezeichnen darf. Ich bitte Sie! Ist das wirklich unser Ernst?

      Am nächsten Abend freuen wir uns dann darauf, gemütlich bei einem Stück Pizza vom Bringservice dabei zuzuschauen, wie irgendein käsiger F-Klasse-Promi aus dem Dschungelcamp fliegt, obwohl es diese bemitleidenswerte Kreatur, dieser völlig schamfreie und durch und durch bedauernswerte Mensch im Vorfeld über sich brachte, vor laufender Kamera sein Innerstes nach außen zu kehren, sich den blamabelsten Herausforderungen zu stellen und seine Menschenwürde freiwillig mit Füßen zu treten. Und warum macht er so etwas, so fragt man sich?

      Nur damit die arme Sau noch ein wenig länger medienpräsent sein darf. Noch immer nicht in der Versenkung verschwunden und vergessen, noch immer im Fernsehen. Noch ein klein wenig länger im öffentlichen Bewusstsein, um sich im Licht der extrem kalten Sonne zu präsentieren, die wir „Berühmtheit“ nennen. Oder anders ausgedrückt: um sich noch ein paar Stündchen länger von exakt dem Haufen von Arschlöchern beim Blamieren begaffen zu lassen, der unserem „Prominenten“ dann schließlich feixend einen schönen Rückflug nach Deutschland wünscht.

      Obwohl... Vielleicht geht ja Selbsterniedrigung, gepaart mit dem Verlust jeglicher Würde heutzutage als vielversprechendes und lukratives Karrieremodell durch? Großer Gott! Deutschland, du Land der Dichter und Denker.

      Sie müssen entschuldigen... Ich schweife ab.

      Wissen Sie, ich versuche gerade, so etwas wie Ordnung in mein gedankliches Chaos zu bringen. Ich möchte einen Anfang für das finden, was ich Ihnen gerne erzählen möchte, aber das ist gar nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wie gesagt: Ich bin Buchhalter. Haben Sie also bitte ein wenig Geduld mit mir und kommen Sie einfach mit auf meine persönliche Reise in den Wahnsinn. Sie können ja jederzeit eine kleine Pause einlegen, wenn es Ihnen passt. Sie haben Glück. Sie können das.

      Ich schreibe ein Buch.

      Gütiger Himmel.

      Ich bin noch immer sehr aufgewühlt, von dem, was vor nicht ganz zwei Stunden geschehen ist.

      Ja, vielleicht sollte ich damit anfangen. Vielleicht sollte ich Ihnen als erstes erzählen, wie ich so ticke, damit Sie verstehen können, warum ich so unfassbar angefressen bin, so über alle Maßen hinaus fertig mit dieser Gesellschaft und damit auch – so leid es mir tut – mit Ihnen, lieber Leser. Schauen Sie, ich bin ein Mensch, der eigentlich nicht gerne im Rampenlicht steht. Wirklich nicht. Nun ist es nicht so, dass ich in der Vergangenheit viel Gelegenheit dazu gehabt hätte, dies herauszufinden. Ich stand eigentlich nie im Rampenlicht, war nie ein Show-Talent oder die Art von Mensch, die sich sofort meldet, wenn in einer Besprechung mein Boss „Vorschläge?“ in den Raum bellt. Du lieber Himmel, als Frau Kunze damals in der fünften Klasse fragte, wer sich um das Amt des Klassensprechers bewerben wolle, tauchte ich völlig panisch unter meinen Tisch ab und versuchte, den Eindruck zu erweckten, in meiner Tasche nach Tintenpatronen zu suchen! Nein, ich bin kein Mensch für die Bühne. Soviel steht fest. Und doch kann ich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich am heutigen Abend für den größten Knaller in der deutschen Fernsehunterhaltung seit dem Mauerfall gesorgt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Anzahl der Clicks auf YouTube mit Bezug auf meinen Fernsehauftritt schon jetzt durch die Decke geht! In den letzten zwei Stunden habe ich dafür gesorgt, dass ich von jetzt an endgültig meine Ruhe vor der Allgemeinheit haben dürfte. Von dem dummdosigen Bescheuertensoziotop, in dem wir gezwungen sind, uns täglich aufzuhalten oder – wie ich es nenne – vor der „Zielgruppe“. Denn nur um sie geht es. Es geht immer nur um „die Zielgruppe“. Aber dazu später mehr.

      Und nun? Zwei Stunden nach dem großen Knall?

      Wenn ich die Gardine meines Fensters ein wenig zurückziehe, kann ich sehen, dass draußen auf der Straße alles seinen gewohnten Gang geht. Ein paar Autos, eine gelegentliche Straßenbahn, Fußgänger, und ein Boxermischling, der auf den Grünstreifen zwischen Fuß- und Radweg scheißt, während sein strähnenblondiertes Frauchen abwesend auf ihr Handy glotzt. Da kann man mal wieder sehen, dass im Grunde genommen alles nur ein Witz ist. Der Eine erlebt den wohl aufregendsten Trip seines Lebens, und der Andere informiert sich darüber, an welcher Tankstelle der Diesel am billigsten ist. Das ist das Leben. Der Alltag. Und der schnurrt wie eine gut geölte Maschine vor sich hin. Unabschaltbar, unaufhaltbar, und ohne auch nur zu ruckeln.

      Vielleicht sollte ich die Gardine lieber wieder schließen und mich konzentrieren. Vielleicht sollte ich mir auch etwas möglichst Hochprozentiges aus dem Minikühlschrank holen, mich erst einmal sammeln und mich Ihnen vorstellen. Ich meine damit, mich Ihnen so vorzustellen, als würden Sie mich nicht schon seit Monaten kennen. Ja, das klingt vernünftig.

      Vor allem die Sache mit dem Minikühlschrank.

      Wie wir bereits festgestellt haben, wissen Sie, wer ich bin. Und nun sollen Sie mich kennenlernen.

      Gestatten: Kruse. Mein Vorname ist Robert. Zu der Zeit, in der ich mit meiner Geschichte ansetzen möchte, nannte mich jedoch kein Schwein bei meinem Vornamen. Meine Kollegen nannten mich „Kruse“ (»Kruse, hast du schon das Memo gelesen?«), und meine Freunde nannten mich „Robbie“. Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, warum. An meiner Ähnlichkeit mit einem britischen Popstar gleichen Namens wird es jedenfalls nicht liegen. Ich war damals so etwa Mitte fünfzig, hatte einen stattlichen Bauchansatz, und die einzige Kopfbehaarung, die noch nicht aschgrau war, wuchs mir neuerdings aus den Ohren. Ich war – wie erwähnt – Buchhalter, ein Job, der in der Top-Ten-Bewertung der coolsten Berufe Deutschlands so in etwa auf Platz vierundsiebzig ins Ziel keuchen dürfte.

      Robbie... Was für ein bescheuerter Spitzname. Wie kann man denn bitteschön auf die Idee kommen, einen fetten, grauhaarigen, buchhaltenden Mittfünfziger „Robbie“ zu nennen? Es war wohl ihr persönlicher Witz auf meine Kosten, und es war meine allseits anerkannte Aufgabe, mich darüber aufzuregen.

      Wenn ich heute – mit einem gewissen Abstand – darüber nachdenke, waren es eigentlich gar nicht wirklich meine Freunde. Genaugenommen konnte diese komischen Typen, die an den Wochenenden mein Haus überrannten, wie eine grunzende Horde angesoffener Mongolen, nie ausstehen. Ich nicht. Aber meine Frau. Ja, so muss man es sehen.