Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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sich einarbeiten, mit dem Winkelschleifer nachbessert, bis die Fläche eben ist. „In der Nachbarabteilung wird dann Farbe aufgespritzt. Da darf kein Grat erkennbar sein. Das Blech muss glatt sein wie ein Kinderarsch.“ Er sagt es gütig, erklärt, wie die Schleifmaschine in den Händen gehalten und bedient wird. Kurz zur Seite blickend bemerkt Mugele, wie die Kollegen nebenan belustigt zuschauen. Und es klappt nicht. Immer wieder rutscht er ab, so sehr er sich müht. Immer wieder schreit der hohle Stahlkasten auf. „Vorsicht!“, ruft Meister Tummatsch, „das ist ein Schweinebraten!“ Mugele versteht nicht, und die Schleifhexe, anfangs passabel handlich, wird von Minute zu Minute schwerer. „Ach, das wird schon“, tröstet Meister Tummatsch, verspricht auch wiederzukommen. Noch nie hat Mugele sich so heftig nach einer Pause gesehnt.

      Das wird keine ruhige Pause. Die Männer setzen sich auf die gewohnten Holzbänke, schieben ihm einen Klappstuhl zu und holen ihre Stullenbüchsen raus. Einer fragt den Neuen, ob er Orchestermusiker sei. Ein Schlanker, Dürrer will wissen: „Warum tust du dir diese Drecksbude an? Hast du was ausgefressen?“

      So ruhig er kann, gesteht Mugele: „Ich will was ausfressen, Frau und Kind und mein chinesischer Papagei ebenso, und möglichst was Gutes und die ganze Woche über. Ich komme nämlich, vielleicht klingt’s komisch? – aus Peking. Im Moment bin ich blank. Aber einen Einstand wird‘s geben, wenn was in der Lohntüte steckt.“ Und beißt in seine Stulle.

      „Was hast du denn in China gegessen“, will ein Dritter wissen, „faule Eier oder Hund?“

      „Kann ich dir sagen: gallertartige Lehmeier sind erst mal ungewohnt, sehn auch merkwürdig aus, fast schwarz. Halbiere das Ei und mach‘ es mit geriebenem Knoblauch und Ingwer an, dann einen Spritzer Sojasauce drüber – eine Delikatesse. Mit Hundefleisch wollten sie in Peking nicht aufwarten. Seit dem Koreakrieg haben sie keine Hunde in der Stadt außer einem Airdale Terrier und einem Deutschen Schäferhund. Die gehören einem Schweden und einem Amerikaner. Zwei Hunde für drei Millionen Pekinger, das wäre ein bisschen wenig. Aber in Kanton steht Hund auf der Speisekarte. Ich hab’s nicht versucht.“ Mugele merkt, dass sich die Kollegen beim Kauen gern eine Geschichte auftischen lassen.

      Da macht sich Klimper bemerkbar – Mugele hat ihn gleich erkannt mit seinem hohen schwarzen Barett voller Blechabzeichen und Orden ringsum, das er wohl Tag und Nacht nicht ablegt – wird es ernster: „Mich nennen sie Klimper, und wie heißt du?“

      „Mugele“, sagt Konstantin.

      „Also gut, Mugele, ich werde dir ein paar Tricks mit der Schleifhexe zeigen, jeder hier würde es tun, aber sag‘ uns erst mal, was der Parteisekretär von dir wollte gestern bei der Kadertante? Hat dich Alfons umgenietet?“ – Mugele ist überrascht, aber Klimper lässt nicht locker. „Du verstehst mich schon …“

      „Ob ich Parteimitglied werden soll oder will? In meinem Fall ein bisschen spät gefragt: Genosse bin ich schon lange, das bin ich mir schuldig.“

      „Soso. Und du hast einen chinesischen Papagei? Und kommst aus China?“, will Klimper bestätigt haben.

      „Ja.“

      „Haste auch‘n Mao-Abzeichen?“

      Die Kollegen schielen zu Klimpers Mütze und grinsen. „Werde ich nachgucken und dir meins mitbringen“, sagt Mugele, „du kannst es besser gebrauchen als ich.“

      „Das würdest du für mich tun, Muggi?“ – Jetzt hast du einen Spitznamen weg, denkt Mugele und ahnt zugleich: die Anstellung, nun ist sie perfekt.

      Tummatsch kommt zur Pausenecke der Schlosser: „Könnt ihr nicht mehr? Jungs, es hat Eile. Und es ist ein Schweinebraten“, sagt der Meister. Klimper erhebt sich und die andern machen es ihm nach. „Ein Schweinebraten?“, fragt Konstantin leise. – Ein Lehrling flüstert: „Det saacht der Meester imma, wenn eene Prämie drin is. Mit die beeden Filter isset sowieso klar, die jehn nach Leipzig zur Messe …“ Konstantins Arme schmerzen, Rücken und Beine auch, und der Tag ist lang.

      Am Abend zu Hause, todmüde, wirft Konstantin sich auf sein Bett und schläft. Wird wach nach zwei Stunden. „Hast dich überanstrengt?“, fragt Isa „Wie war’s denn? So sag‘ doch was.“

      „Wo warst du, Papa?“, mischt sich auch der Junge ein. Konstantin lacht: „Ich war an der Schleifhexe.“ – Dem Jungen werden die Ohren heiß und rot. Anderntags wird Peter zum Kindergarten rennen und prahlen: „Gestern war mein Papa bei der Schleifhexe. Die hat ihn überanstrengt, sagt meine Mama.“

      Von Tag zu Tag wird Mugele kräftiger, gelassener. Und so sind seine Tage: Straßenbahn, Straßenbahn; Schleifhexe, Pause, Schleifhexe, Mittagspause, Schleifhexe … Nach der Arbeit legt er sich ein, zwei Stunden hin. Alle wissen und respektieren das, auch der Papagei. Dann ist Mugele ausgeruht. Der Kopf ist frei. Er kann denken, lesen, schreiben. Er produziert – ein vergessenes Glücksgefühl. Die Straßenbahn. Die Lohntüte. Mugele bestellt Fachbücher, eins über Papageien, eins, ganz sinnlos, über Papageienzucht.

      Am Sonntagvormittag klingelt es: Kokos Taufpate steht in der Tür. „Herein mit dir.“ Erbse bringt Blumen für die Examinantin. Erbse tobt mit dem Jungen herum. Erbse fragt Konstantin, wo sie mal in Ruhe was besprechen können. „Komm rüber zum Papagei. Er ist absolut verschwiegen.“ Erbse begrüßt Koko. Der Papagei wiegt sich auf seiner Stange, als wolle er tanzen. Erbse schlägt vor, demnächst einen Haken in die Zimmerdecke zu drehen, und verspricht, für den Kupferbügel mit den zwei Näpfen ein Stück Angelschnur mitzubringen. „Und wie hast du dich eingelebt?“, fragt Erbse.

      „Gut. Womöglich mach ich das Richtige. Ich produziere Vorzeigbares. Den ganzen Tag über habe ich es mit vernünftigen Leuten zu tun, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Und ich schone meine grauen Zellen. Sie kommen mir abends zugute … Und, Erbse, was machst du?“

      „Kunstgeschichte hat mir gefallen“, sagt der, „die Renaissance, speziell die italienische. Nun nur noch Hobby, wenn mir Zeit bleibt. Es geht selten nach den eigenen Wünschen. Ich hab’s auch mit vernünftigen Leuten zu tun, aber die ahnen nicht, wie unvernünftig sie sind.“

      „Biste bei die Jummiohren?“, fragt Mugele. – „Konstantin, Konstantin – noch immer das lose Maul? Aber ich will nicht streiten mit dir. Du kommst aus der Welt, hast deine Sache gemacht, du kommst mit Menschen zurecht, Fremdsprachen, nicht dein Problem – du gehörst in die Welt, nicht in die Blechbude.“

      „Meinst du nach China?“

      „I wo. Von den vier Himmelsrichtungen, na rate mal, meine ich die nach Westen.“

      „Erbse, im Reich der Mitte kennt man seit ewig der Himmelsrichtungen fünf.“

      „Willst du mich verkohlen? Wie sollte es eine fünfte geben?“

      »Zu Süden, Norden, Westen, Osten, gibt es in China die Richtung Mitte.“

      „Das ist merkwürdig. Nein, ich meine die andere Welt, die ziemlich mächtige alte. Nicht einen Erfolg gönnt sie uns, nicht den kleinsten, möchte uns am liebsten den Hals zudrehen, verstehst du?“

      „Erbse, ich bin nich doof. Na klar wolln sie uns an den Kragen. Klauen uns die Kapazitäten weg, befreien uns von Landarzt, Ingenieur oder Chemieprofessor, weiß ich doch. Nennen uns Brüder und Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang, aber trotz der riesigen Steinkohlehalden verkaufen sie keinen Krümel Kohle an die Ostzone. Nicht mal den Namen lassen sie uns.“

      „Stimmt alles“, sagt Erbse, „ist aber nicht mein Gebiet. Ich bin, das bleibt unter uns, mit der westdeutschen Aufrüstung befasst. Was wir wissen müssen, und sehr schnell, sind, ich sag’s verkürzt: Truppenbewegungen, vor allem die geheime Planung.“

      „Und das ist nicht mein Gebiet, Erbse. Ist aber auch nicht so schrecklich neu. Schon der alte Sunzi, Denker und Militärstratege im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, hat da ein Traktat über die Kriegskunst geschrieben, sehr gescheit, auch über die Notwendigkeit von Spionen …“

      „Konstantin“, Erbse sagt es mit Schärfe, „ich spreche nicht von Spionen, ich spreche von Kundschaftern.“

      „Und