Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


Скачать книгу

Papageien dem Tod von der Schippe gehopst. Inzwischen, und es tut mir gut, befasse ich mich mit Stahlblech. Und übrigens mit Gedichten.“

      „Nimmt dir doch keiner. Ist schön, wenn du das kannst. Uns interessiert: Sind die Wege offen?“ Ein Augenblick der Stille tritt ein. „Hast du Angst, Konstantin? Sprich dich aus … Meinst du, ich würde dich ins offene Messer laufen lassen? Mit niemandem habe ich so freiheraus gesprochen, offener als es jede Dienstvorschrift erlaubt. Wir kennen uns lange. Eine Tippeltappeltour gibt es auch bei uns. Die ersparen wir dir. Mit links erlernst du ein paar Verhaltensregeln speziell zum eigenen Schutz.“

      „An was denkst du da?“

      „Konspiration ist das A und O. Für das Operationsgebiet erhältst du eine andere Identität, auch einen neuen Namen.“

      „Das heißt, du taufst mich um.“

      „Wenn du’s so nennst … Du kannst dir den Namen auch aussuchen.“

      „Will ich denn, Erbse? Vom Bahnhof hast du mich abgeholt. Das war lieb. Du hast meinen Papagei vier Treppen hoch geschleppt und ihm stante pede einen anderen Namen verpasst: Jakob – plauz war‘s Koko. Mit einem Papagei geht das. Ich hab’s hingenommen, weil du’s bist. Hatte keine Ahnung, das machst du immer so. Übrigens: Bei meinem Aufenthalt in Moskau hat mir ein fahrender, will sagen führender Sowjetbürger eingeschärft: Tschelowjek nje popugai.“

      Gab’s Streit? Dazu ist Erbse zu klug. Er zeigte sein feines Lächeln. Und er hält, was er versprochen hat. Von der Decke der Wohnstube hängt die Angelschnur mit dem Kupferbügel. Das ist Kokos neuer Lieblingsplatz, schwebend. Und Konstantin muss mit einer alten Erfahrung zurechtkommen: Wer Vögel nähret, dem wird ihr Unflat zu Lohn.

      Schnee ist gefallen, aber die Leute vom Prenzlauer Berg zertrampeln die Pracht. Der Wind bläst Ruß durch die Straßen. Heute kommt Mugele mit einem Gast nach Haus. „Zeigst du mir deinen Chinesen, Muggi?“, hatte Klimper am Ende der Schicht gefragt.

      „Na klar, aber wann?“

      „Am besten gleich, ich hab ein Geschenk für den Papagei.“

      Kokos Verkündung durch alle Türen hindurch ist bis in den Treppenflur zu hören. Ein Hüne tritt in die Küche der Mugeles, struppig das schwarze Haar, das unter dem Barett hervorquillt. Er begrüßt das Kind, das am Tisch sitzt und tuscht. „Weißt du wer ich bin?“ fragt er den Jungen.

      „Du bist ein Bär“, sagt Peter, und Klimper lässt es sich gefallen. „Ihr habt es gut in der Höh“, sagt der, guckt rundum und rühmt die Platane im Hof. Als Klimper das Wohnzimmer betritt, klopft Koko auf seine Schaukelstange. Isa legt das Chinesisch-Wörterbuch zur Seite. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört, eigentlich jeden Tag“, gesteht sie.

      „Hoffentlich Gutes“, meint Klimper, „ich bin der Schrecken des Luftfilterbaus, stimmt’s, Muggi?“

      „I wo“, begütigt Konstantin, „du bist der Schrecken der Pfuscher.“

      „Wenn schon, denn schon“, sagt Klimper, „machen wir nun Sozialismus oder nich? Aber es dauert viel zu lange. Die Leitungen sind faul, un wir Muschkoten tricksen und klaun. Das passt nicht zueinander.“

      „Nun übertreib nicht, Klimper.“

      „Aber es ist so«, bekräftigt der Gast und wendet sich dem Vogel zu: „Du bist hier, höre ich, der Wachhund. Hab dir ein Knöchelchen geschnitzt – nun schnitz weiter.“ Der Papagei greift nach dem Hölzchen – und schnitzt. Klimper rückt sich einen Stuhl heran, guckt dem Vogel ins Gesicht, guckt und staunt. Als sich Klimper vornüber beugt und einnickt, gehen Isa und Konstantin leise aus dem Zimmer und machen in der Küche ein Abendbrot zurecht. Konstantin holt Bier aus dem Fensterspind. Peter zeigt sein Bild: Die Gute Hexe reitet auf einem Besen in den Kindergarten. Später, beim Bier, sagt Klimper: „Mir gefällt dein Papagei, Muggi. Und dass du deine Meinung sagst. Auch wie gelassen du unsern Spott erträgst. Wir dachten doch …“

      „Schon gut“, sagt Mugele. „Und mir hat es bei euch gefallen …“

      „Schade“, sagt Klimper, „ich ahnte doch, du wirst wieder fortgehen.“

      Wenn Mugele an die Zeit im Luftfilterbau denkt, wird sie ihm als eine glückliche vorkommen. Und nicht nur der Gedanken wegen, die ihm der Arbeitstag ließ. Die in blauer Bluse sind es, die die Welt voranbringen. Und weiß, das ist eine Metapher. Sie sind es, die den Reichtum schaffen. Gehen des Morgens müde ans Werk, schuften den langen Tag. Müde kehren sie am Abend nach Haus. Salz der Erde … Das war so, bleibt das so? Tief innen fühlt er sich den Genossen verbunden. Zu ihnen gehört er auf der ärmeren, der glückhaften Seite der Welt, zehn Jahre schon. Aber die erste Möglichkeit und Bitte, sich der feindlichen Seite offensiv entgegenzustellen, wirklich in den Kampf einzutreten, sei’s sich Beulen zu holen, die schlägt er aus. Und weist auch noch auf seinen Papagei. Nein, sehr mutig bist du nicht, Mugele.

      Wenn der Papagei sich im graugrünen Wams plustert, fühlt er sich sicher und gut. Doch die Metallkette am Fuß, wiewohl sie den Freigang ermöglicht, ist keine so tolle Erfindung … Auch Mugele merkt das, denn unermüdlich sucht er eine Fußfessel aus leichtem Werkstoff herbeizuschaffen. Mit der Plastikkette für Ausguss- oder Badewannenverschluss glaubt er ihn gefunden. Ein Irrtum. So war es im Tagesablauf des Papageien gewiss ein erhebender Augenblick, als der die neue Kette durchbeißt und sich einen Ausflug gönnt. Am Einband von Uljanows „Empiriokritizismus“ erprobt er seinen Schnabel. Später wirft er vom Ofensims her Reste der Kette, Glied für Glied, dem heimkehrenden Konstantin vor die Füße. Die Lektion ist deutlich: Nie wieder Ketten.

      Weihnachten und Neujahr sind vorüber. Der Kalender bezeugt das Jahr 1959. Da bricht Mugele zur neuen Arbeitsstelle auf. Mit der U-Bahn, Richtung Ruhleben, fährt er zwei Stationen, läuft an der Volksbühne entlang und steht vor der dem Hohen Haus zugeordneten Lichtzentrale. Am Einlass erhält er einen Passierschein und begibt sich zum Büro Ziegler. Der schmächtige Mann tritt zu der korpulenten, wortkargen Sekretärin, Genossin Gerda, stellt sich vor und wünscht gute Zusammenarbeit. Er bekommt sein Zimmer gezeigt. Es ist einfach und praktisch ausgestattet, an Möbeln zwei Bücherregale sowie eine kleine Besuchergarnitur, ein Panzerschrank. Wozu den? Auf dem Schreibtisch steht ein Blumengruß, mitten im Winter, am 15. Januar.

      Der Chef sei ein paar Tage in Leipzig, bei den Malern. Er empfehle ihm, sich in Ruhe einzuarbeiten, die Post durchzusehen. „Morgen zeig ich dir alles. Du musst dich im Regierungskrankenhaus vorstellen – das hat ein paar Tage Zeit. Aber erst mal solltest du rüber ins Hohe Haus. Dort gibt Genosse Sindermann, grad aus China zurück, vor den Politischen Mitarbeitern seinen Reisebericht. Anschließend kannst du an Ort und Stelle die Formalitäten erledigen. Geh auch gleich zur Waffenkammer.“

      Auf, auf zum Kampf. Mit China – das fängt gut an. Und ist ein bisschen verwirrend. Konstantin streift sich den Mantel über. Der Weg zum Hohen Haus in der Wilhelm-Pieck-Straße, das sind dreihundert Schritt. Du gehst der Straße deiner Kindheit entgegen, die einmal Lothringer hieß. Das große Eckhaus an der Prenzlauer Allee, damals Kaufhaus Jonas, das wird dein Winterpalais. Nun muss er doch lachen.

      Der große Saal, den Mugele betritt, füllt sich rasch. Ein wenig hat er Zeit, sich die Gesichter anzusehen. Er merkt, wie er jenes besondere Leuchten in den Augen sucht, das Anna Seghers in den Augen der Revolutionäre entdeckt hatte. Er sieht, so sehr er sucht, gewöhnliche Leute, sauber und ordentlich angezogene. Schon tritt der Referent in den Saal, beginnt ohne Umschweife seinen Bericht über die so ferne Volksrepublik. Er ist hingerissen vom Elan beim Großen Sprung, dem er im November drei Wochen in Nord und Süd begegnet sei. Ein guter Redner, denkt Mugele, aber er reist hastig, guckt und notiert hastig. Die Puddelöfen fehlen nicht. „Und nehmt den Analphabetismus in Volkschina, Genossen, diese uralte Geißel – heute so gut wie ausgerottet. In Schanghai zum Beispiel …“ Es folgen aus einigen Küstenstädten staunenswerte Prozentzahlen. Aber Konstantin ist bereits von dem Gedanken abgelenkt, dass sie im Mittereich gar kein Alphabet haben. Sie haben die uralte Bilderschrift, die zu erlernen Anstrengung verlangt und den raschen Erfolg ausschließt. Beifall füllt den Saal am Ende der Ansprache, und der Redner,