Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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wenn du kannst. Auf deinen Schicksalsgefährten aber darfst du bauen. Machst du aber nicht, Mugele. Du hast ein Auge drauf, dass er dir nicht fortfliegt. Er darf auf deinem Kopf landen und mit dem Schnabel den Haarschopf kämmen – Ohr und Aug darf er nicht nahekommen, bislang. Mugele, du misstraust.

      Beherzt setzt Konstantin den Papagei auf die linke Schulter – weiß er, was er anrichtet? Koko spürt Wohlwollen. Mit seinem Schnabel, der ist durchblutet und warm, streichelt er das Ohrläppchen. Von nun an, links auf Mugeles Schulter sitzend, beschaut ein Papagei die Welt. Jedenfalls die häusliche. Er ist ruhender Pol auf bisher ruheloser Gestalt. Ist jener so gelaufen, der die Eule nach Athen getragen hat?

      Bittsteller stellen sich ein: der Demokratische Frauenbund vom Prenzlauer Berg wünscht sich zur Jahreshauptversammlung einen Vortrag zum Thema: Familie und Papagei. Aus dem Erfahrungsschatz eines alten Züchters. – Die Arbeitsgemeinschaft Freie deutsche Reiher der Jungen Pioniere trägt ihm die Ehrenmitgliedschaft an. – In der Uni Jena liegt eine Dissertation eines vietnamesischen Aspiranten an: Das Vogelmotiv in der vietnamesischen und der germanischen Mythologie. Divergenz und Übereinstimmung. Wir bitten Sie um das Außengutachten möglichst bis …

      Nein, Mugele lässt sich nicht hinreißen. Er hat auch Sorgen: ringsum, im sandreichsten Revier der Republik – kein Vogelsand aufzutreiben. Die Streuung. Wie soll das weitergehen mit der häuslichen Hygiene ohne den feinen weißen Sand, mit Kalk, Sepia, Anisöl versetzt, Ingredienzien, die Mensch und Papagei gesund erhalten? Rettung erhofft Mugele von der Endmoräne, wie sie die letzte Eiszeit vor 12 000 Jahren im Brandenburgischen zurechtgerieben hat, so die Wanderdüne bei Woltersdorf. Aber ist die keimfrei? Auch überstehen Viren und Mikroben hohe Temperaturen. Er muss ein kräftiges Feuer machen, um den Sand wenigstens bakterienfrei zu kriegen. Hat am Sonntagmorgen, die Leute schlafen noch, im Hof aus alten Ziegeln einen offenen Brennofen gerichtet, setzt eine halb mit Dünensand gefüllte Eisenschüssel drüber. Das Buchenholz lodert – für Koko alles! Mutmaßt schon den Neustart für märkisches Glasbrennen – im Baruther Urstromtal sind sie seit 1716 dabei – da kippt der windige Brennofen in sich zusammen. Reflexhaft greift Mugele nach der Schüssel, schreit auf.

      Zwei verbundene Hände sind am Montag nicht lange unter dem Tisch zu verbergen. Professor Ziegler schickt seinen Assistenten mit dem Dienstwagen unverzüglich in jenes Krankenhaus, in dem man auf Schritt und Tritt maladen Staatsdienern begegnet, auch kränklichen Künstlern, Schriftstellern von einiger Berühmtheit. In der Scharnhorststraße mangelt es nicht an erlesenen Ärzten und vorzüglichen Salben. Heute hilft ihm das. Er kehrt noch mal zur Kommission für Erleuchtung zurück, um sich krankzumelden.

      „Was hast du Sand zu kochen?“ fragt Ziegler, und Mugele muss die Geschichte vom lebensrettenden Papagei preisgeben. Der Professor zeigt Verständnis. Auch auf diesem Gebiet hat er Kenntnisse. „Schau dir alte persische Poeme an – ohne Papagei geht es da nicht ab. – Gut, dass dich Engpässe nicht genieren“, sagt Ziegler. „Du weißt dir zu helfen. Muss man auch. Im Kaukasus, selbst in Moskau habe ich viel improvisieren, basteln und erfinden müssen. Übrigens: das Sekretariat im Hohen Haus hat eine Dienstreise nach Moskau beschlossen, um die Heimkehr von Kurt Sanderling perfekt zu machen. Den kennst du nicht? Du wirst ihn schätzen lernen. Sanderling ist ein großer Künstler, vormals Chefdirigent des Symphonieorchesters von Charkow, war 18 Jahre lang, bis heute, der zweite Mann am Dirigentenpult in Leningrad. Wir brauchen ihn dringend. Und du kommst mit mir. Beeil dich mit den Brandwunden. Es geht nicht an, dass du Moskau nur aus der Perspektive deines russischen Teeschaffners kennst. Moskau – dort schlägt das Herz der Welt. So, und nun schnell nach Hause mit dir. Und gründlich ausheilen. In zehn Tagen geht’s los. Inzwischen erkunde, welches Konzept die sowjetische Kulturministerin verfolgt, ackere die Rede vom Parteitag durch. Ich bin gespannt, was dir auffällt. Ist alles übersetzt. Ich schicke es dir morgen. Vor allem: Gute Besserung. Und nun greife nicht mehr. Begreife!“

      Professor Ziegler und Mugele, mit Diplomatenpässen ausgestattet, steigen in die Maschine der Interflug. Sie werden zum VIP-Bereich geführt. Der Begleiter nimmt draußen seinen Platz ein. Zur Begrüßung wird Sekt gereicht. Ab geht’s nach Moskau-Scheremetjewo von Schönefeld her, dem von FDJ-Brigaden erbauten Rollfeld der Hauptstadt, der Dichter Karl Mickel damals dabei. Professor Ziegler greift nach der Frankfurter Allgemeinen, streicht sich was im Leitartikel an, sagt: „Der Flüchtlingsstrom nach Marienfelde beginnt ihnen lästig zu werden, für uns aber ist er fatal. Was suchen diese Leute, und zunehmend sind es Bauern, in dem bigotten Adenauerstaat?“ – Fragt, ohne eine Antwort abzuwarten: „Und wie war die Lektüre der Furzewa-Rede?“

      „Chruschtschows Kulturministerin spricht einschläfernd, Genosse Ziegler, richtig trocken. Statistik, Statistik ihr ein und alles. Widersprüche sieht sie nicht. Also Probleme – kaum erkennbar.“

      „Ich weiß. Dabei gibt es im sowjetischen Vielvölkerstaat und seinen Kulturen Probleme übergenug. Unsere Bruderpartei geht die Dinge eher pragmatisch an. Uns Deutschen, das wusste schon der alte Heine, liegt mehr das Grübeln und Philosophieren. Für morgen ist ein Besuch bei ihr im Ministerium verabredet.“ – Die Stewardess füllt den Sekt nach und bietet Kaffee und ein Frühstück an.

      Hoch in den Lüften ist Zeit für ein ungestörtes Gespräch. Das geht von neuen Büchern in Frankreich und Italien bis zu Chancen der Skelettbauweise und wie man die Eintönigkeit neu erbauter Stadtviertel aufbrechen könnte. Was leistet eine gute Übersetzung und was kann sie nicht? „Schon ein einziges Wort deutsch dem ausländischen Pendant zugesellt, bietet Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung“, sagt der Professor und legt für einen Augenblick beide Handflächen zueinander, ehe er die Daumenballen gegenläufig leicht dreht. „Chleb Brot“, sagt er, „das scheint identisch. Ein Russe aber hört zugleich Getreide. Das bietet Raum für Missverständnisse. Es ist doch ein Unterschied, ob ich aus der Periode des Kriegskommunismus berichte, den Kulaken wurde das Brot weggenommen oder die Getreidevorräte wurden beschlagnahmt?“ So kommen heikle Dinge zur Sprache. „Sag bitte, Genosse Bernhard, wie konnte es in unserer Bewegung zu solch verhängnisvollem Beschluss kommen wie dem Verdikt über die Sozialdemokratie als Hauptfeind?“

      „Die Untaten der Noske und Zörrgiebel sind unbestreitbar, dennoch war dieser Beschluss sektiererisch. Er traf auf eine aus Erfahrung gespeiste Grundstimmung in der Arbeiterklasse. Ich nehme ein Beispiel: Ein Fabrikarbeiter, er muss nicht Kommunist sein, wehrt sich gegen die Kürzung seines Lohns, die Betriebsleitung entlässt den Mann, der den Arbeitsfrieden gestört hat. Der Betriebsrat stimmt zu – ein Sozialdemokrat. Der Arbeitslose geht auf die Straße und empört sich, der Polizist zieht ihm den Gummiknüppel über und nimmt ihn hopp – ein Sozialdemokrat. Ein Richter verknackt ihn. Wer schließt den Gefangenen ein? – Doch der Beschluss war grundfalsch.“ – Das Flugzeug verliert an Höhe. Im Landeanflug liegt Moskau. Dort wurde der Beschluss gefasst.

      Denkt Mugele an die Dienstreise im Frühsommer 60, Reise im Schatten des Professors, sieht er draußen eine quirlige besonnte Stadt. In den Sälen geht es gedämpft zu. Professor Ziegler beabsichtigt, seinem Mitarbeiter den Stadtkern zu zeigen, wenn das offizielle Programm absolviert ist. Schwanensee im Bolschoi ist die Vorspeise. In seiner Erinnerung sieht Mugele eine energische, elegante Blondine auf Ziegler und ihn zutreten, rund fünfzig Jahre alt, Ministerin Furzewa. Eine mächtige Frau, die einzige in dem von Männern okkupierten Präsidium des ZK der KPDSU. Und Sekretär des ZK ist sie auch. Die deutschen Gäste bittet sie an einen grün betuchten Arbeitstisch. „Jekaterina Alexejewna“, sagt Professor Ziegler auf Russisch, „im Namen unserer Parteiführung und der Regierung möchte ich Genossen Chruschtschow und der KPdSU nochmals für das Verständnis und alle Unterstützung danken: Kurt Sanderling kehrt nach 24jähriger Emigration in sein Heimatland zurück und wird dort eine bedeutende Aufgabe übernehmen.“ – „Das geht schon in Ordnung“, sagt die Ministerin, was Mugele noch grad versteht. Und kein Wort mehr über Kultur, was Mugele nicht versteht. Vielmehr parlieren die Zwei über platte Politik, über die ansteigende Zahl der Flüchtlinge von Ost nach West. Und Ziegler zieht die FAZ aus der Tasche und gestikuliert heftig mit der Zeitung in der Hand.

      Die Begegnung mit Kurt Sanderling war und bleibt für Mugele der Lichtpunkt, wiewohl sie im sterilen Ambiente