Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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Gesellschaft zu entfalten hat. Und: Der chinesische Papagei hat seine Kerne.

      Inzwischen wird das Fachbuch über Papageienvögel geliefert. Konstantin studiert es aufmerksam. Sein grüner Papagei ist also eine Psittacula, gehört zu dem Dutzend der Edelsittiche. In dieser Gattung ist er der größte und farblich schönste, ein Wachsschnabelpapagei. Letzteres, sich früher Begegnungen mit dem Schnabel erinnernd, kann Mugele, der Laie, weder verstehen noch bestätigen. Ein Earl of Derby soll den Vogel erstmals in Europa vorgestellt haben. Ihm sei der Fehler unterlaufen, die rot- und die schwarzschnabligen Exemplare in getrennten Volieren gehalten zu haben, und sei zu der Feststellung gelangt: In Gefangenschaft vermehren sie sich nicht. Solchen Quatsch, Koko, wollen wir mal nicht glauben. Aber dass du edel bist, wir ahnten es immer.

      Willkommen also in der neuen Würde, Koko – Lord Derby’s Parakeet, Psittacula derbiniana, Lord Derbys Edelsittich. Nun Näheres herauszukriegen, wer der zuständige Lord Derby war und worin sein Verdienst für die Vogelkunde besteht, macht Mühe. So gelangt Mugele auch in Spezialbibliotheken. Dann weiß er: Die Stanleys, britischer Hochadel, tragen väterlicherseits bis auf den heutigen Tag den Ehrennamen Lord Derby, egal ob sie große Schlachten geschlagen, geköpft wurden oder sich sonst hervorgetan haben: alles berühmte Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Militärs, Müßiggänger, Kunstsammler, Parlamentarier, vom König, von der Königin ins Oberhaus berufene Lords, mit oder ohne Hosenbandorden. Ein uraltes Geschlecht, seitdem König Henry VII. 1485 Thomas Stanley mit dem Titel Earl of Derby bedachte.

      Wer aber war der namensgebende Derby? Lord Derby XII. des verzweigten Clans, ein Pferdenarr, eher nicht, wiewohl er eine naturwissenschaftliche Bibliothek anlegte. Wiewohl er auf Knowsley Hall Gehege und Stallungen ausbauen ließ und in seiner Menagerie neben 94 Arten Säugetieren auch 318 Arten von Vögeln beherbergte. Tatsächlich war’s der Sohn, Edward Smith Stanley (1775 – 1851), Earl of Derby XIII., seines Zeichens britischer Politiker, Grundbesitzer, Baumeister, Landwirt, Kunstsammler und Naturforscher. Er hielt sich in größerem Stil Papageien, gelegentlich auch Künstler. So den berühmten Maler, Limerick- und Nonsensdichter Edward Lear in den Jahren 1832 – 1836. Der schuf ein vorzügliches Buch zoologischer Illustrationen von Papageien, bot dabei erstmals keinen Abklatsch ausgestopfter Vögel, sondern zeichnete nach lebendiger Natur. Auf dem Landsitz gab es viel zu entdecken – die letzte damalige Inventarliste zählt 1272 Vögel und 345 Säugetiere auf. Aber ob unser Lord Derby XIII. je in Indien oder China geweilt und in den Bergwäldern in 1500 bis 4000 Meter Höhe den Papageienschwärmen nachgestiegen ist, lässt sich verlässlich nicht sagen. Gewiss ist, dass er reich und hoch angesehen war. War generös. Man schmeichelte ihm, ja verzichtete ihm zuliebe auch auf eigenen Ruhm. Man brachte ihm als Ehrengabe exotisch fremdes Getier auf das Adelsgut Knowsley Hall. Aus drei Erdteilen stammten die Tiere, bei deren wissenschaftlicher Namensgebung man ihm die Patenschaft antrug – der afrikanischen Riesen-Elenantilope (Taurotragus derbinianus), einem südamerikanischen Hühnervogel, dem Zapfenguan (Oreophasis derbianus) und eben dem Chinapapageien, Lord Derbys Edelsittich, (Psittacula derbiniana). Wer hätte das gedacht, Koko.

      Von den Sorgen, die Konstantins Familie betreffen, wiewohl er manchmal danach fragt, weiß der Professor nichts, allenfalls flüchtig. Dabei ist manches für die Mugeles nicht Sorge, was andere schon auf die Barrikade treibt, so der Engpass in der Fleischversorgung. Da scherzen Konstantin und Isa noch, wenn die Metzger statt Wurst und Schinken Blattpflanzen ins Schaufenster rücken. Was macht sie unempfindlich gegen Armseligkeit? Dass sie Kriegskinder waren, die gelernt hatten mit Not umzugehen? Dass sie sich Die Große Lehre vom Künftigen in Seminaren und Subbotniks zu eigen gemacht hatten? Es ist vor allem das Urvertrauen in die Zukunft, das die Mugeles erfüllt. Und: Budjet. Budjet. Isa, nun schon Aspirantin, erwartet ein zweites Kind. Hoffnungsvoll sind die Mugeles in eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft eingetreten, zahlen mit Geld und Arbeitsstunden. Die AWG baut im nördlichen Pankow, in Wilhelmsruh, und wieder an der Grenze. Nebenan der VEB Elektroapparatewerk Bergmann-Borsig. Baut Turbinen und, neuerdings, elektrische Rasierapparate, beide ziemlich laut. – Für die Mugeles bleibt fraglich, wer oder was zuerst fertig in die Welt gesetzt wird: Das Haus? Das Kind?

      Das Kind. Familie Mugele nennt es Renate. War eine schwere, eine aufregende Geburt. Alle freuen sich, erregt ist der Papagei, der nun eine lebhafte Gefährtin in der Nähe hat. Es gefällt ihm, wenn das Baby nach dem Trinken aufstößt, recht geräuschvoll sein Bäuerchen macht, also hick! Da antwortet Koko der Kleinen, zur Freude der Familie, mit deutlichem: Hick! Nun wollen alle, wenigstens auf dieser Basis, mit dem Papagei ins Gespräch kommen, rufen Hick! Und hick! Vergeblich. Er missachtet Fälschungen. Sollen sie doch Hick! rufen, solange sie wollen. Er antwortet nur auf das, was inbrünstig aus unschuldiger Brust ertönt. Er ist ein Edelsittich.

      Dem Genossen Ziegler gegenüber vom Papagei kein Wort. Der hat schon genug Vorbehalte. Er mag Balletttänzer nicht und auch nicht Germanisten. Was ist das eigentlich, Germanistik? – Mugele will es dem Professor nicht erklären und ist glücklich, nur in eine der zwei Kategorien zu gehören.

      Mit dem alten Mann ist auszukommen. Wenn Mugele früh den Pack Tagespresse, und der ist riesig, überflogen und aufbereitet hat, kriegt er nachmittags, spätestens am Folgetag mit, was noch oder was vor allem beachtenswert war. Das Interesse des Professors ist weit gespannt, geht über die Künste, die Kulturtheorie bis in die Abgründe der Politik und der Börsenkurse. Aber der Professor gibt gern von seinem Wissen, auch von seinen Vermutungen ab, mal wie nebenbei, mal nimmt er sich richtig Zeit. Sein Secretarius soll nicht unbedarft durchs Leben taumeln. Da greift er auf die Erfahrungen in vielen Ländern zurück, begeistert sich neu am Volksleben in den italienischen Tavernen, rügt das französische Kleinbürgertum, das in den Zwanzigern um seine Baku-Aktien zitterte und nach deren Verlust nicht vom Antikommunismus ablassen kann. Über die Gewohnheiten russischer Bauern und Arbeiter gibt er Auskunft, über den scharfsinnigen Lenin, dem er begegnet war. Ihn schildert er im Vergleich zum beifallsüchtigen Trotzki. „Eine Szene, die mir vor Augen steht. Moskau, Kolonnensaal. Trotzki, ein guter Redner gewiss, lässt sich feiern, wie er vom Pult her durch die Reihen schreitet und die Honneurs entgegennimmt. Gleichzeitig Lenin, der Stratege, hockt vorn auf den Stufen, eine Kladde auf den Knien, nimmt letzte Korrektur für seine Rede vor …“ Über Stalin spricht Genosse Ziegler zu Mugele nicht, kein Wort.

      Halt, das stimmt nicht ganz. Einmal, gut gelaunt, kommt Ziegler aus der Sitzung des Zentralbüros, sagt: „Dass zwischen der Sowjetunion und Polen die Grenze willkürlich gezogen worden sei – Stalin habe sich über die Landkarte gebeugt und seinen Arm auf die Karte gelegt, um den entscheidenden Strich zu ziehen, und es sei ob des Ärmelknopfes ein Huckel entstanden – das stimmt alles nicht. In Wirklichkeit sei eine hochrangig besetzte Russisch-Polnische Grenzziehungskommission die künftige Trennlinie abgeschritten und habe einvernehmlich alles regeln können. Aber irgendwann sei die Kommission auf ein Gehöft gestoßen, bei dem die Grenze später mitten hindurch verlaufen werde. Was tun? ‚Lassen wir den Bauern entscheiden!‘ Sie klingeln an der Haustür. Bäuerlein kommt. ‚Wir von der Russisch-Polnischen Grenzziehungskommission möchten Sie fragen, ob Sie für Polen oder für Russland optieren möchten?‘ – ‚Da muss ich meine Frau fragen‘, erwidert der Bauer und klettert die Stiegen hinauf. Kehrt zurück und sagt: ‚Zu Polen.‘ – Kurz vor Abschluss der Arbeit besinnt sich die Kommission des interessanten Falls und kehrt noch einmal zu besagtem Gehöft zurück. Klingelt. ‚Es bleibt, wie Sie entschieden haben‘, sagt der Kommissionsvorsitzende, ‚nur wüssten wir noch gern den Grund.‘ – ‚Da muss ich meine Frau fragen‘, sagt der Bauer und klettert die Stiegen hinauf. Kehrt zurück und berichtet: ‚Meine Frau fürchtet den russischen Winter.‘ So war das.“

      Manchmal, sehr gelegentlich, darf Konstantin die Honneurs entgegennehmen, die Professor Ziegler zugedacht sind. So muss der Professor an einem 8. März den versammelten Verdienten Frauen des Landes Gruß und Dank von Partei und Regierung überbringen, ehe ein festliches Tafeln beginnt. In hohem Ton spricht er vom Menschen, der Schöpfer seiner selbst sei, gibt auch ein uraltes Rätsel zu bedenken: Am Morgen läuft er auf vier Beinen, mittags auf zweien, am Abend auf dreien … Da kommen sie, die Mugele aus der Arbeit kennen, und sagen erregt: „Heute hat dein Chef so interessant und zu Herzen gehend gesprochen …“ Mugele, für