Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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Herzlichkeit. Sanderling steht am Wendepunkt zweier Lebensepochen, das ist aufregend. Aber der Emissär macht es ihm leicht, nennt die Freude, die seine Zusage in Berlin geweckt habe, auch bei ihm, Ziegler. Die Entscheidung, das Pult in Leningrad aufzugeben, sei weitsichtig, sagt er. Ein Deutscher, so gut er sei, werde dort nie die erste Geige spielen. Und fragt nach den Wünschen und Erwartungen des Übersiedlers für sich und die Familie … Das alte Pankow sei eine angenehme Vorstadt. Vielleicht werden wir Nachbarn? – Es läge eine Einladung zu einem Gastdirigat beim London Philharmonic Orchestra vor, sagt Sanderling, solle er zusagen? – „Dagegen spricht nichts“, meint Ziegler, „aber antworten Sie besser nach der Übersiedlung, vom neuen Wohnsitz her.“

      Mugele blickt fasziniert in das belebte Gesicht des Dirigenten. Er freut sich schon auf dessen erstes Berliner Konzert, möglicherweise ist eine Schostakowitsch-Symphonie dabei. – Zieglers Frage, ob Sanderling Wünsche gegenüber dem in Aussicht genommenen Berliner Sinfonieorchester hege, beantwortet der bescheiden: „Ich freue mich auf alle, die dort musizieren. Wir wollen von unten auf miteinander arbeiten.“ Das berührt Mugele sehr.

      Der Gang durch Moskaus zentrale Straßen und Plätze an der Seite des Einheimischen ist ein Kontrastprogramm. Kreml und Roter Platz, das Denkmal für Majakowski, die alten Sperlingsberge längs über der Stadt mit der Lomonosssow-Universität – Mugele kann nicht genug davon gezeigt und erläutert bekommen. Auch dem jungen Begleiter vom Personenschutz macht der Stadtgang Spaß. Mugele zückt seinen recht primitiven Fotoapparat und schießt Bild um Bild, bis der Professor anmerkt: „Das alles ist oft und schon viel besser fotografiert worden, als dir das möglich ist. Die Menschen musst du sehen – ihnen musst du ins Gesicht blicken.“

      Zu Dritt gelangen sie zu einer vormalig orthodoxen Kirche, die durch Umwidmung zur Bibliographischen Abteilung der Staatsbibliothek für Auslandsliteratur dem Zerstörungswahn früher Sowjetjahre entging. Hier, im Refugium seiner einstigen Strafversetzung, begrüßt Frau Margarita Rudomirowa, die Leiterin, den Professor aufs Herzlichste. Ein guter Tee wird gebrüht, Erinnerungen flattern herüber und zurück. Und Mugele entgeht nicht der Stolz, mit dem die Direktorin auf den Mann blickt, der ihr 1935 heikel als Mitarbeiter zugeteilt ward.

      Später verabschiedet sich Bernhard Ziegler von den zwei jungen Wegbegleitern, um seine vormalige Gattin, eine Russin, zu besuchen. Dorthin müssen Mugele und die Sicherheit nun wirklich nicht folgen.

      Frau und Kinder sollen ein Mitbringsel aus Moskau erhalten. Die Zwei machen sich auf ins GUM. Und was entdeckt Konstantin? Ein wunderschöner großer Papageienkäfig, Made in GDR, blitzt auf. Wie würde der Chinapapagei sich wohlfühlen, wenn er sich, nach des Tages Schabernack, da rein zur Nacht zurückziehen könnte! Und grad dieses Exportgut aus der Heimat kann er, Greenhorn in der Kommission für Erleuchtung, dem Vaterland aller Werktätigen nicht entziehen, wiewohl er ahnt, was Diplomaten der Welt im Dienstgepäck so alles fortschleppen.

      Und wie leben die Papageien in der Hauptstadt der Sowjetunion? Mugele zieht es mit Macht in den Zoologischen Garten. Er wird dort nicht glücklich, verfehlt auch die Papageien. Ein alter Zoo. Gewiss, der russische Bär, er hungert nicht, aber hier fehlt ihm Hagenbeck’sche Freiheit.

      Die Familie daheim erhält einen Beutel Pralinen aus der Schokoladenfabrik Rot Front. Auch Koko freut sich über die Rückkehr Konstantins, zuspelt am Ohr, guckt als frage er: Hast du auch mir was mitgebracht? Das sind Augenblicke, in denen Konstantin eine strapazierte Moskauer Auskunft in Zweifel zieht – denn Papageien sind den Menschen viel näher, als diese meinen.

      Solche Exkursionen gehen zulasten Isas. Auch Peter und der Papagei leiden. Und immer dann fallen Entscheidungen, die Isa treffen und ausbaden muss. Kurz: der Möbelwagen ist schon bestellt, das fertig gebaute Genossenschaftshaus muss bezogen werden. Die beiden Kinder sind für einen Tag bei den Großeltern. Dass auch der Papagei von der Hektik des Räumens möglichst verschont bleibe, stellt ihn Konstantin mit dem Käfig auf den Kachelofen. Die Transportarbeiter klettern fluchend die hohen Stufen der engen Hinterhaustreppe empor und beruhigen sich ein wenig, als sie die Teller mit dem kräftigen Frühstück und auf dem Ofen den schönen Vogel erblicken. Fünf Mann haben plötzlich Zeit, klettern nacheinander auf einen Schemel und suchen dem klugen Tier ein paar dumme Wörter beizubringen. So kommt man ins Gespräch. Und dann flutscht es. Den Vogel aber unterschätzen alle, auch Konstantin. Als die Bude schließlich leer geräumt und gefegt, auch die peinliche Frage schroff beantwortet ist, ob Mugele ‚die olle dicke Bibel‘ noch brauche, als fast alle unter der Platane zur Abfahrt nach Wilhelmsruh versammelt sind, werden die Möbelräumer nun doch unruhig. Zeit ist Geld! – Der Papagei muss noch geholt werden. Doch den Vogel haben die ungewohnte Geschäftigkeit, danach die Leere und absolute Stille so verstört, dass er sich mit übergroßer Anstrengung durch die Käfigstäbe gezwängt hat. Nun will er sich nicht mehr einfangen lassen. Unten hupen die bibelfrommen Möbelfahrer, und man kann nicht einmal das Fenster aufreißen und hinunterschreien: „Geduld, ich werde den Bager schon kriegen.“

      O Glück des Einziehens. Du hast eine neue Wohnung, hast sie mit erbaut! Wohnst im ersten Stock. Fontanestraße. Das Haus duftet nach Kalk und Ziegelstein. Trockenwohnen – lang aus der Mode. Du wohnst trocken. Anno 61 freust du dich, die ersehnte Bleibe auszugestalten. Wenn das Bohren und Hämmern ein Ende findet, wird jeder seine Ruhe haben wollen. Aber der Papagei wird durch die dünnen Wände zu hören sein. Augenblicklich ist er unerträglich, kreischt metallen auf, wenn nur in einer der Wohnungen gehämmert oder gebohrt wird. Was tun? – Renate krabbelt um die vollen Bücherkisten. Für maßgerechte Regale muss rasch ein Tischler gefunden werden. In der Nähe gibt es einen tüchtigen Altmeister, ortsbekannt ob seines Könnens und seiner Preise. Der Meister kommt, vermisst die Wände. Mitleidig betrachtet er die Tür des Kleiderschranks, die nur mit Hilfe eines eingeklemmten Stück Leders geschlossen bleibt, murmelt „russischer Verschluss“. – „Bei Gagarin im Weltraum haben sie‘s auch so gemacht“, höhnt Mugele, besinnt sich aber: Im Bauern-und-Handwerker-Staat sei lieb zu deinem Tischler.

      Nein, Kindergeschrei wird im Haus nicht zum Problem werden. Die Einziehenden – manche haben zwei und mehr Kinder oder erwarten eins. Peter wird bald Freunde finden. Schon erkundet er das Terrain rundum und sucht nach der Schule. Dort wird er zum Herbstbeginn die Zuckertüte überreicht bekommen. „In der Schule ganz oben nisten Adler“, berichtet er aufgeregt. So ganz stimmt das nicht. Aber brütende Falken, wie sich erweist, im Giebel einer Zehnklassigen Polytechnischen Oberschule – das ist schon was.

      Die Hausversammlung im Freien verspricht Gutes, obwohl oder weil der Antrag auf Umwandlung der Wüstung hinter dem Neubau in einen Parkplatz zugunsten eines Kinderspielplatzes abgeschmettert wird. Mugele nutzt die gute Laune der Runde und lädt die Versammelten zum Umtrunk beim chinesischen Papagei ein. Das hast du dem Ziegler abgeguckt, gesteht er sich: Den Stier bei den Hörnern packen! Erst neulich hat der, als heftig um die Nachtschicht gestritten wurde, einer Gruppe von Stahlwerkern in Hennigsdorf geraten: „Eure Frauen verstehen das nicht? Verfluchen das Werk und euch, wenn ihr morgens müde heimkommt? Ladet sie doch, mit aller Vorsicht, mal ein zu einem Abstich. Was meint ihr, wie das Eindruck macht! Sie werden stolz auf euch sein, jedenfalls werden eure Frauen euch besser verstehen.“ Und der Parteisekretär stimmt dem Gast aus dem Hohen Haus zu, natürlich stimmt er zu, der Betriebsleiter nickt und meint: „Wir können es mal versuchen.“

      Und die Mitbewohner in der Fontanestraße 40 greifen sich eine Stulle mit Zwiebelschmalz, langen nach einem Gläschen Nordhäuser Korn, die Frauen nach Kirschlikör. Wie von allein gruppieren sie sich um den Papagei. „Also“, sagt Mugele, „seid willkommen beim größten Schreihals des Wohnblocks – Koko. Ich frage mich, ob ihr den grünen Chinesen aushalten werdet, den Lebensretter? (Zustimmung rundum.) Details erzähle ich ein andermal. Zum Wohl. Auf gute Nachbarschaft.“ Die Gläser klirren und es sieht so aus, als ob es wegen des Papageien niemals Ärger geben könnte. Der aber kommt schneller als gedacht.

      Zwei Urlaubswochen am Ruppiner See stehen an. Die Mugeles überlegen, wem die Ehre angetragen werden kann, einen Lebensretter zu betreuen. Auf gut Glück entscheiden sie sich für das Ehepaar im Erdgeschoss, ruhige Leute mit zwei netten Mädchen, ermahnen die Familie auch, den Vogel nicht aus dem Käfig zu nehmen und frei fliegen zu lassen.

      Die