Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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      Egon winkte dem teils ärgerlich, teils belustigt tuschelnden Chor kollegial zu und stakste gutwillig und mit seinem Erfolg zufrieden in die ihm gewiesene Richtung. Als jedoch anschwellender Gesang hinter ihm her flutete und das ganze Bauwerk erfüllte, packte es ihn erneut. Er setzte sich auf das äußerste Ende einer Kirchenbank, lauschte, summte die Melodie mit, fühlte sich verwoben in ein bisher ungefühltes Sein und fragte sich, ob es nicht doch etwas geben könnte, jenseits des ‚historischen und dialektischen Materialismus‘.

      Erfüllt vom Zauber der Klänge, überhörte er das Ende der Probe. „Wachen Sie auf, Mann, und gehen Sie endlich!“ Der Kantor versuchte, den Träumenden aus der Bank zu ziehen.

      „Hände weg!“ Mit einem kreatürlichen Klammerreflex hielt sich Egon am Schnitzwerk der Kirchenbank fest.

      „Zum letzten Mal im Guten: Gehen Sie - oder wollen Sie Hausfriedensbruch begehen?“

      „Wat für'n Bruch? Ick sitz hier janz still, und ick hab'n Recht mit Jott zu reden, wann immer ick will. Und jetzt will ick, und hier will ick.“

      „Gott ist überall, und die Kirche ist kein Wartesaal. Gehen Sie endlich!“ Und weil der Eindringling sich weiterhin an das Schnitzwerk klammerte: „Oder muss ich erst die Polizei rufen?“

      Egon empfand die Frage nicht als Drohung. „Det machen Se man. Dann werd'n Ihn'n die Jenossen nämlich beibiegen, wat in unsre Verfassung steht von Jlaubensfreiheit und so.“

      Einige Chormitglieder waren neugierig an der Tür stehen geblieben und beobachteten die ungewohnte Szene. Den Kantor ärgerte das. Er fühlte sich zu einer entschiedenen Haltung verpflichtet.

      „Achten Sie bitte darauf, dass dieser Mann keinen Schaden anrichtet“, rief er der kleinen Gruppe zu. „Ich verständige inzwischen das Polizeirevier.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte er davon.

      Zögernd trat ein älterer Mann an Egon heran. „Machen Sie sich nicht unglücklich, junger Mann. Die Kirche muss abgeschlossen werden. Das ist nun mal so.“

      Egon zog sich an dem massiven Schnitzwerk hoch.

      „Warum darf ick ma nich in Jottes Halle setzen? Nie is mir danach jewesen, aber miteins heute.“ Mit der freien Hand beschrieb er einen weltumfassenden Bogen. „Det muss doch wat zu bedeuten hab'n!“

      „Wenn Sie es ehrlich meinen, junger Mann, dann setzen Sie ruhig Ihre Zwiesprache fort... aber vielleicht außerhalb der Kirche.“ Der Mann winkte Egon ihm zu folgen. „Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären nicht gerade während unserer Probe hier vorbeigekommen.“ Mit einer weiten Geste erreichte er, dass Egon zu ihm aufschloss.

      „Schauen Sie sich diese Tür an, eine herrliche Arbeit, hab ich recht?“

      „Mit de Tür haste recht, Kolleje, aber ehrlich, ick kann mir nich vorstell'n, det Jott bloß mal uff Schicht jeht, so wie ick. Also, wenn Jott wirklich Jott is, dann issert rund um die Uhr. Stimmt's?“

      „Aber ja. Er ist immer da und überall. Er ist allgegenwärtig.“

      „Dann isser jetzt hier? Hier vor de Tür?“

      „Auch das.“

      „Jut, Meester, dann will ick dir man nich weiter bemühn.

      Egon lehnte sich gegen den gemauerten Türbogen und ließ sich auf die oberste Stufe sinken. Tief aufatmend schloss er die Augen und legte den Kopf weit zurück.

      Der ältere Mann ging dem Kantor entgegen und wies auf den Türbogen. „Jetzt sitzt er ganz friedlich draußen und scheint ernsthaft nachzudenken.“

      „Lieber Herr Lenz, Sie versuchen immer und überall, das Gute zu entdecken. Ich fürchte, der Kerl führt uns alle an der Nase herum.“

      „Wie Sie meinen, Herr Kantor. Dann darf ich mich verabschieden.“ Er zögerte, doch der Kantor zeigte nicht den Wunsch, ihn zurückzuhalten. So wandte sich Herr Lenz mit einem leichten Kopfschütteln ab und ging.

      Der Kantor schloss geräuschvoll die schwere Eingangstür, stieß missmutig den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn hörbar herum und forderte nachdrücklich: „Verlassen Sie endlich kirchlichen Boden oder Sie haben sich die Folgen selbst zuzuschreiben!“

      Egon sah keinen Grund, sich zu trollen. Im sicheren Gefühl, mit Gott und der Welt im Einklang zu sein, blieb er auf den Stufen des Portals sitzen und erwartete eher belustigt das Erscheinen der Staatsmacht.

      Scheinwerferlicht erhellte die Straße, Blaulicht strich über den schmiedeeisernen Zaun, dann wurden Autotüren zugeschlagen und eine barsche Stimme rief: „Ist da jemand?“

      Der Kantor eilte den Uniformierten entgegen. „Ja, hier!“ Er riss die Tür des Zaunes auf und beeilte sich darzulegen, warum er es unvermeidlich gefunden hatte, Hilfe zu rufen.

      „Lage erfasst“, ließ sich nun die barsche Stimme vernehmen, „setzen wir ihn also an die frische Luft.“

      „Da ... da sitzt er schon.“

      „Ja - was sollen wir dann noch ...?“

      „Er will nicht vom Grundstück ...“

      „Und warum nicht?“

      „Das fragen Sie ihn am besten selbst.“

      „Na gut. Komm Schorsch, fragen wir ihn.“

      Egon räusperte sich, und als die beiden Polizisten auf ihn zu schritten, ergriff er das Wort und die Initiative.

      „Juten Abend, Jenossen. Ick hab Eure Frage jehört und kann sofort antworten.“

      „Na dann.“

      „Dies hier ist 'ne Kirche, und mir is ausnahmsweise mal nach'm Zwiegespräch gewesen mit dem“, er hob Blick und Hände gen Himmel, „obersten Chef von de Kirche.“

      Blick und Hände wandten sich den Vertretern der irdischen Macht zu. „Nu hab ick grad in de Abendschule jelernt, in unserm Staat steht die Jlaubensfreiheit unter'm Schutz der Verfassung.“ Blick und Hände schwenkten in Richtung Kantor. „Und da steht ooch, det sich die Kirchen an unse Verfassung halten müssen. Und deswejen, liebe Jenossen, macht mal dem Kollejen in Schwarz klar, det ick hier nur mein verfassungsmäß'jes Recht wahrnehm.“

      Die beiden Volkspolizisten sahen sich mit mühsam bewahrtem dienstlichen Ernst an. Der Streifenführer rückte seine große Meldetasche zurecht. Doch bevor er etwas sagen konnte, trat der Kantor auf ihn zu.

      „Verzeihung, aber hier geht es überhaupt nicht um die Verfassung. Hier geht's um das Hausrecht. Tagsüber steht unsere Kirche jedermann offen. Aber nach Einbruch der Dunkelheit muss alles verschlossen werden. Das ist Vorschrift, und hier bin ich dafür verantwortlich. Der junge Mann weigert sich aber, das Grundstück zu verlassen. Das ist schlichtweg Hausfriedensbruch!“

      „Isses das?“ fragte der Uniformierte mit der barschen Stimme seinen Nebenmann.

      Der blätterte suchend in seinen gesammelten Dienstvorschriften und hob dann wie entschuldigend die Schultern. „Das könnt man so sehen.“

      „Also dann“, konstatierte die barsche Stimme, „Ende der Debatte.“ Und nach einem schnellen Schritt auf Egon zu, kommandierte der Streifenführer: „Hoch und raus auf die Straße!“

      „Moment, Moment.“ Egon hielt ihm abwehrend die Handflächen entgegen „Wat heißt Friedensbruch? Ick sitz hier janz friedlich. Wer det Treiben verrückt macht, det is der Schwarze da.“ Und mit anklagend weisendem Finger: „Der will mich nich reden lassen mit sei'm obersten Chef.“

      „Es reicht, Bürger, also hoch und ab!“ Der Streifenführer packte Egon an seinem ausgestreckten Arm und zog ihn mit einem Ruck von den Steinstufen hoch.

      Dem wurde durch das schnelle Aufrichten schwindlig, und um nicht zu straucheln, hielt er sich dort fest, wo es ihm einzig möglich war - an der Uniformjacke des Polizisten. Nun hatte der nach dem energischen Hochreißen eines vollgewichtigen Erwachsenen noch nicht die wünschenswerte Standsicherheit