Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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Redefin, Kutschfahrt für Rentner, 1986

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       Berlin, 1. Mai 1960

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       Karl-Marx-Stadt, Dienstleistungskombinat 1975

      HANS MÜNCHEBERG: Die Macht des Gesanges

      Rekonstruktion eines realen Geschehens

       Mehr als drei Jahrzehnte war der Autor neben seiner beruflichen Arbeit im Deutschen Fernsehfunk als gewählter Schöffe am Berliner Stadtbezirksgericht Treptow tätig.

       An dem geschilderten Fall hat er als Beisitzender Richter mitgewirkt.

      „Typisch Weiber! Für uns kein Feiertag - aber für sie 'n Tag zum Feiern.“

      Diese Einheit des Widersprüchlichen und ein ihm eigenes Pflichtgefühl wurden Egon S. im ersten Frühjahr nach dem Mauerbau beinahe zum Verhängnis. Ihm fehlten zudem gewisse Erfahrungsbereiche. Kurz gesagt: Er war ein Spätentwickler.

      Noch als Halbwüchsiger war er in das Kabelwerk Berlin-Adlershof gekommen. Dort hatte er nur einmal - und zwar bei seiner Einstellung - mehr als zwei Sätze mit Frauen gewechselt: in der Personalabteilung. Sein Weg zum Facharbeiter und danach in den Meisterbereich II war konsequent von Männern begleitet worden - sein privater Lebenslauf jedoch von einer willensstarken Frau, seiner Mutter.

      „Du darfst nie uffhören zu lernen, Junge!“, schärfte sie ihm immer wieder ein. „Oder willste ewig Schichtarbeiter blei'm?“ Und wenn er sie dann mit gequältem Gesichtsausdruck anblinzelte, versicherte sie eifernd: „In dir steckt mehr, ville mehr! Ne Mutter fühlt das! Und et wär ne Sünde, würdeste unjenutzt lassen, wat dir Gottes Gnade an Talent mit auf'n Weg jejeben hat.“

      Das mit der Sünde meinte sie ernst. Mit GOTT DEM HERRN wollte sie stets im Einklang leben. Sie ging regelmäßig in die Kirche. Solange Egon klein war, musste er sie zum Gottesdienst begleiten. Massiver Druck durch seine Schulfreunde half ihm Jahre später, sich zum ersten Mal gegen den Willen der Mutter zu behaupten und neben der Konfirmation auch zur Jugendweihe zu gehen. Danach musste er sich wieder und wieder Klagen über seinen Verrat anhören. Ihre Gebete wurden immer flehender. Die Macht des Diesseitigen drohte ihren Egon auszuhöhlen. Da war es besser, er verbrachte die Abende auf der Schulbank statt in verräucherten Versammlungsräumen.

      Nun also trafen zusammen: der Internationale Frauentag, ein normaler Arbeitstag und der abendliche Stundenplan an der Volkshochschule.

      Egons Mutter hielt nicht viel vom Frauentag. Auch für ihren Verflossenen war der 8. März nur ein willkommener Anlass gewesen, sozusagen offiziell um fremde Weiber herumzuscharwenzeln und durch gemeinsames Saufen alle moralischen Hemmschwellen hinwegzuspülen. Und weil Egon über Jahre miterlebt hatte, welche Jammergestalt sein Vater im Vollrausch abgab, war in ihm ein Ekel gegen Bier und Schnaps gewachsen.

      Für den frauenlosen Meisterbereich war es ein normaler Arbeitstag, also stiefelte Egon in der Abenddämmerung, nüchtern wie immer, von Adlershof nach Spindlersfeld in die Alexander-von-Humboldt-Schule. Nichtsahnend stieg er in das erste Obergeschoss hinauf.

      Die Tür zum Klassenzimmer stand einladend offen und wirkte wie ein Schalltrichter für Zurufe, Kichern und heftiges Prusten. Was gab es da zu lachen? Egon machte einen Schritt in den Raum und das Stimmengewirr verstummte abrupt. Ein rundes Dutzend erwartungsvoller Augenpaare blickte ihm entgegen. Was war los mit den Frauen? Sie sahen irgendwie verändert aus. Und seltsam - von den Männern seiner Klasse war noch niemand erschienen. Jetzt fiel es ihm wieder ein: der 8. März!

      „Ja, richtig ...,“ presste er heraus, „herzlichen Glückwunsch zum Internationalen Frauentag.“

      „Ist das alles?“

      Ratlos blickte er sich um. Was wollten sie von ihm? Einfach übersehen, dachte er, flüchtete auf seinen Platz und atmete auf, als die Klingel ertönte.

      Physik, Mathematik und Gesellschaftskunde - seine Glanzfächer. In den Pausen wurde er belagert, mit Schokolade gefüttert und befragt, was er so erwarte - vom Leben allgemein und vom heutigen Abend speziell. Beklommen sah er dem Ende des Unterrichts entgegen. Und richtig, sie schnappten sich seine Aktentasche, sie schnappten sich den Kerl und entführten ihn nach Alt-Köpenick in ein Café. Dort forderten sie von dem Schüchtern-Nüchternen reihum den Vollzug der längst überfälligen Brüderschafts-Zeremonie, mit Kirsch-Likör auf Ex und Kuss.

      Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als es Egon endlich gelang, auf dem Umweg über die Herrentoilette zu entkommen. Erst hinter der Dahme-Brücke, schon in Höhe der Schule, fiel ihm ein, dass er seine Mappe mit den Büchern und Heften zurückgelassen hatte.

      Egon schwankte, suchte Halt an der alten Litfaßsäule und überlegte: Umkehren? Sich dieser Knutschriege erneut ausliefern? Nein! Es war wie verhext! Jawohl: Hexen!

      Quatsch - Frauentag! Schluss, aus! Er stieß sich von der Litfaßsäule ab und spornte sich mit erhobener Stimme an: Auf leisen Sohlen - Gott befohlen!

      Der Reim gefiel ihm und so wiederholte er ihn mit stets wechselnder Betonung, mal militärisch hart, mal werbend sanft, endlich halb singend im Rhythmus seiner Schritte. „Aa-uf lei-hei-hei-sen Soooh-len - Go-ho-hott-be-fooohlen ...“

      So schwenkte er endlich in die Adlershofer Nipkowstraße ein. Plötzlich erreichten ihn schwebend schöne Klänge, ergriffen ihn, packten ihn, zogen ihn unwiderstehlich an. Chorgesang war es, und er drang, gedämpft zwar, doch vernehmlich aus der etwas von der Straßenfront zurückgesetzten Christus-König-Kirche. Mildes Licht erhellte die rote Backsteinfront des Gebäudes.

      Die schmiedeeiserne Tür des Zaunes gab nach, dann auch die schwere Pforte zum Kircheninneren. Und jetzt konnte sich Egon dem Wohlklang voll ergeben. Unsicher, ob er wachte oder träumte, ging er wie ein Schlafwandler mit weit vorgestreckten Armen auf die vielstimmige Quelle des Gesanges zu. Noch nie hatte ihn ein Lied, hatte ihn Musik derart aufgewühlt. Er kannte die Melodie von Kindheit an. Warum hatte er sie noch nie so erlebt?

      „Gott-be-fo-ho-hooo-len ...“, stimmte er in das ausklingende Kirchenlied ein.

      Jäh brach die letzte Fermate ab. Beunruhigtes Raunen.

      „Was wollen Sie? Sie hören doch, wir proben. Merken Sie nicht, dass Sie stören?“ Der Kantor stellte sich Egon mit abwehrend erhobenen Händen entgegen.

      „Ach Jotte-nee! Stör'n will ick nich: mitsingen!“

      Unterdrücktes Lachen.

      Der Kantor erbat sich mit einem warnenden Räuspern vom Chor Ruhe, dann sprach er mit mildem Vorwurf: „Sie irren, junger Freund, mehr noch, Sie haben sich verirrt.“ Dann wies er in Richtung Ausgang. „Und darum werden Sie jetzt so freundlich sein, sich unverzüglich zu entfernen.“

      Die Stimme des Kantors brach sich im hohen Kirchenschiff. Egon war versucht, ihr mit den Blicken zu folgen. Toll dieser Bau! Gottes Haus eben! Was hatte die Bergern in Staatsbürgerkunde zitiert? „Kirchtürme sind umgekehrte Trichter, die Gebete der Gläubigen in den Himmel zu lenken.“ Richtig! Dies hier war eindeutig eine Kirche, und die war für alle da! Das stand sogar in der Verfassung. Er hätte nie gedacht, dass er sie einmal brauchen würde.

      „Ne Frage noch, Chef! Diss is doch hier 'ne Kirche. Richtig?“

      „Richtig, und hier probt der Kirchenchor. Offiziell ist das Gotteshaus längst geschlossen. Also bitte, gehen Sie!“

      „Moment, Chef! Sie woll'n doch nich 'n Christenmenschen aus Jottes Haus stoßen?“

      „Ich will nur ...“

      „Stop, Chef! Kennen Sie uns're Verfassung, Artikel zwanzich und Artikel neunundreißich? - Kennen Sie se oder kennen Sie se nich?“

      „Ach,