Rainer V. Schulz

Alltagsgeschichten aus der DDR


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keine Ahnung vom Alten Testament hast. Mugele hat Ahnung. Das mit der Bibel plaudert Konstantin, da ist er gern Papagei, bei den jungen Dichtern aus.

      Was zwischen den Kontrahenten an Ressentiments lief – da bist du zu jung zu, Mugele, das kriegst du nicht raus. Und überhaupt ist 1961 ein Jahr, da weiß niemand so recht, was die Weltgeschichte bereithält - Jahr des Eisenbüffels. In einer Kapsel umkreist der erste Mensch den Erdball, die Vereinigten Staaten zeigen sich tief getroffen. Im Fernsehen: Eichmann im Glaskasten. Hat immer nur seine Pflicht getan. Die Chruschtschow-Note zur Entmilitarisierung Westberlins mahnt an, bis Weihnachten solle der Hort der Freiheit Freie Stadt werden, ohne Geheimdienste, ohne Besatzer. Die Welt schreckt auf. Es kommt keine Ruhe in den Sommer, wiewohl alles läuft, wie es läuft.

      Am Müggelsee gibt es ein kleines Sommerfest. Professor Ziegler ist entspannt und fröhlich. Die Urlaubsreise in den Kaukasus ist unter Dach und Fach, beschlossen also. Arme Personenschützer, an den Bergen wird euch der Alte davonklettern. In heiterer Laune auch Otto Gotsche, Sekretär Walter Ulbrichts, schlendert am Tisch Zieglers entlang und sagt: „Bernhard, ich glaube, dass du zeitlebens ein Wandervogel geblieben bist.“

      Wieder ein Sonnabendnachmittag. Vom Hohen Haus fährt ein Bus mit den Abteilungsleitern in den Niederbarnim. Es wird kein Ausflug in die Sommerfrische. Am südlichen Eingang der Gemeinde Basdorf biegt der Bus in das Objekt der Kasernierten Bereitschaftspolizei ein. Der Kommandeur wartet schon am Eingang. Er führt die Gäste in die Problematik ein: Schnell mit voller Kampfstärke das Objekt verlassen und Kampfpositionen einnehmen. Er zieht die Stoppuhr, löst Alarm aus. Ein gemächlicher Tag bricht weg, wird Geschrei, Geknatter und Rauch. Mögen einstmals Ritter, Knappen und Knechte bei Gefahr zur Burg gestürzt sein – hier eilen bewaffnete Männer, sich hastig den Rock knöpfend, zu Schützenpanzern und Mannschaftswagen, um aufs Rascheste die Burg zu verlassen. Motoren heulen auf. In einer Staubwolke verschwindet ein Bataillon. Der Kommandeur blickt auf die Stoppuhr: „Sechs Minuten. Das geht“, verkündet er stolz. Es gibt nachdenkliche Gesichter. Mugele denkt sich nichts Böses, hat sich den versauten Nachmittag auch nicht gewünscht, fragt also: „Genosse Kommandeur, was kostet der Probealarm?“

      Der Offizier, den Unwillen einiger nicht beachtend, antwortet er doch dem Hohen Haus, rechnet, überschlägt die Einzelposten, sagt: „Die heutige Übung kostet etwa 26 000 Mark der Deutschen Notenbank.“ Nun sind es alle zufrieden. Konstantin versteht nicht.

      Auch Irene D., eine Freundin, ist verwundert. Sie ist Slawistikstudentin an der Humboldt-Universität. Hat ein Praktikum am Frauensee in der Dubrow, 30 Kilometer südlich von Berlin. Ein Ferienlager ist zu betreuen mit deutschen Kindern, mit russischen Kindern aus den Waldsiedlungen in der Sperrzone. Deutsche und russische Kinder kommen bald gut miteinander aus, spielen, singen, tanzen. Die schön gebundenen Haarschleifen der russischen Mädchen werden bewundert und stören nicht, nur beim Baden. Alle tummeln sich, an 14 Tage ist gedacht, am Strand des Frauensees. Wo es Verständigungsschwierigkeit gibt – Irene behebt sie. Zum Mittagessen verlangen die russischen Jungpioniere Chleb – und die Küchenfrauen, den Brauch nicht gewohnt, schaffen Brot herbei und schneiden es zurecht. Soll ein wunderschöner Kindersommer werden. Bis eine russische Offiziersfrau im Wolga vorgefahren kommt, um ihren Pjotr in einer Familienangelegenheit aus dem Lager zu holen. Da hilft kein Gezeter des Jungen. Eine andere Offiziersfrau eilt auf dem Fahrrad herbei, Jewgenia müsse ihr nun doch im Garten helfen. Hilft keine Träne. Eine dritte, vierte russische Mutter, mal ein Vater in Hauptmannsuniform, verlangen ihr Kind zurück, bedanken sich artig und murmeln irgendwas. Binnen zweier Tage leert sich der russische Part des deutsch-sowjetischen Ferienlagers. Irene versteht nicht.

      Professor Ziegler verabschiedet sich in den Kaukasus. Er beauftragt Mugele, die DDR-Anden-Feuerland-Expedition, wenn erforderlich, zu unterstützen, eine Berliner Bergsteigergruppe, demnächst mit einem nagelneuen S 4000 und anderem Testgerät unterwegs. Für den Brockhaus Verlag solle ein Chileporträt entstehen – dafür fahre der Schriftsteller Fritz Rudolph mit; der Laster und die übrigen DDR-Geräte sollen sich im tropischen und im Hochgebirgsklima der Anden bewähren. Man werde in Südamerika, Ziegler schmunzelt, auch etwas über unser Land erfahren. Die Schiffsreise beginne vom Hafen Gdynia. Leiter der Seilschaft sei Percy Stulz, Historiker, nebenbei der künftige Schwiegersohn des Außenministers. Das Patronat habe der Kulturbund. „Aber man weiß ja nicht, wie es kommt …“, sagt Ziegler.

      Ach, der Percy, ein großer, blonder, hochbegabter Bursche. Dem ist Mugele im September 48 vor einer riesigen Tafel in der Alma mater erstmals begegnet, auf der die Professoren der wieder eröffneten Berliner Universität und ihre Vorlesungen verzeichnet waren, nach Fakultäten geordnet. Und was machen die zwei Neulinge? Sie stehen und rätseln und suchen aus dem riesigen Angebot traditionell-bürgerlicher Gelehrsamkeit die zwei Handvoll marxistischer Lehrer herauszufischen, die sich an Marxens alter Uni mit der neuen Denkmethode auskennen. Die wollen sie von den alten Hasen abkupfern und dann dreist auf die Wissenschaften losgehen. Ja, unter Hunderten braver Leute lass es ein Dutzend marxistischer Gelehrter sein – das war damals die kommunistische Humboldt-Universität in Ostberlin.

      Nun aber, seit den frühen Morgenstunden, läuft ein kommunistisches Bubenstück. Und keiner will’s gewusst haben. Macmillan, der britische Premier, unterbricht nicht einmal die sonntägliche Jagd. Kennedy sieht den status quo nicht gefährdet. Er kalkuliert kühl: Better a wall than a war. In Jeeps werden die Späher an die Grenze der Westsektoren geschickt. US-Soldaten fotografieren von West nach Ost, wie bewaffnete Arbeiter, Kampfgruppen genannt, presumebly Germans, Drahtbündel ausrollen und, von Soldaten unterstützt, ihre Grenze befestigen. Die Jeeps fahren unkontrolliert durch die ihnen zugewiesenen Übergänge in den Soviet sector und knipsen Gleiches von Ost nach West. Sie finden keinen Gesprächspartner. Sowjetische Truppen – nicht zu erblicken. Das macht die Niederlage noch bitterer. Die Vereinigten Staaten schicken eine Protestnote an N.S. Chruschtschow, aber die Aufhebung der getroffenen Entscheidung des Warschauer Pakts wird gar nicht erst gefordert. Maurer, auch Soldaten mit Ziegeln und Mörteleimern, errichten eine Mauer.

      Von der Schließung der Grenze erfährt Mugele am Sonntagmorgen aus dem Radio. Es wird ein warmer, sonniger Tag werden. „Mit dir, mein grüner Papagei, hat das alles nichts zu tun. Hier, nimm Nüsse und Kerne, solange wir sie haben.“ Mugele macht eine Katzenwäsche, greift sich eine Schrippe und fährt ins Hohe Haus. Unterwegs: nachdenkliche Leute, Menschen, die ein Na endlich! bekunden, andere wütend und gereizt. Lebensplanungen zerstieben.

      Ein Sonntag also im Hohen Haus, und alle sind da. Nur ein paar Angler fehlen. Eine kurze Absprache. Planungsstäbe entstehen, Verantwortliche der Ministerien treffen ein. Was wird heute gebraucht, was morgen und danach? – Viel und von allem! Mehl und Brot, Fleisch, auch Zucker. (Die Bruderländer springen ein.) Und Opernsänger. (Der Minister für Kultur ordnet an, das vorzüglich ausgebildete Nationale Dorfensemble zweckgebunden aufzulösen.) Überhaupt, über Nacht wird alles verlangt sein, auch Arbeitsplätze für Hunderttausende Grenzgänger. (Was macht man mit Kommerzialräten?) Konstantin fällt der Papagei ein, wiewohl man sich in seinem Fall durchaus ein paar Wochen behelfen kann. Aber wie steht es um die Wellensittiche? Berliner sind ein tierliebendes Volk. Was knapp war oder fehlte, holte der gemeine Mann aus Quelle West. Konstantin eilt zu den Wirtschaftsleuten, spricht von den Wellensittichen. „Bist du wahnwitzig, Genosse Mugele, siehst du nicht, was hier los ist?“ – „Ich sehe es genau“, sagt der, „ihr wollt uns vierhunderttausend Berliner zum Feind machen …“ (Der Kaufauftrag nach Syrien – Hirse, wird aufgestockt und vorverlegt.) Mit dem Wellensittich, Konstantin, da hast du deine Königsebene.

      Mugele jubelt nicht, Mugele trauert nicht. Er liest die eingehenden Nachrichten: schroff ablehnende, wägende, skurrile. Er wird sie alle vergessen, vielleicht die eine nicht, weil sie so fern aller Wirklichkeit erscheint:

      Der Chef einer Kleiderfabrik in Westberlin wandte sich an die eine, ihm bekannte kommunistische Arbeiterin im Werk: Was machen wir, wenn die Russen kommen? Sie dachte einen Moment nach und schlug vor: Dann nennen wir uns VEB Rote Nadel.

       (Auszug aus „Konstantin Mugele erzählt“, Erstmals veröffentlicht 2013, HeRaS Verlag, Göttingen)