Jacques Varicourt

Die Villa


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stolz auf das Land seiner Väter sein will, der kann und muss einfach nur in die deutschen Geschichtsbücher sehen. In den Büchern, die von den wirklich großen Deutschen handeln, wird er die Antwort auf das finden, welches er im Leben sucht. Alles, was fernab eines Staates, wie dem unseren ist, ist anfällig.“ „Anfällig?“ Ich verstand nicht. Doch Rösser redete, energisch, mit geradezu, fester Entschlossenheit weiter, er ergänzte: „Darum sollte er, der Unorientierte, der Suchende, die deutschen Werte hochhalten, und nicht in den vielen Mittelmäßigkeiten seiner verweichlichten Nachbarn herumschmökern, denn die meisten so genannten Verfechter der Freiheit sind nur nutzlos und idiotisch, sie stellen sich am Ende sogar gegen die eigenen Leute, wenn sie die Führung übernehmen, um alles wieder ganz anders zu machen, und somit verkehrt und unakzeptabel sind.“ Rösser hatte zwar überhört und vermutlich auch übersehen, dass man Freiheit nicht mit Gegnerschaft verwechseln sollte, aber seine nationalen Gedanken deckten sich, im Ansatz zumindest, durchaus, mit den meinigen. Und Rösser setzte, ermutigt durch meine Zustimmung, noch einen drauf, er sagte: „Die Welt hat letzten Endes die wichtigsten Errungenschaften den Deutschen zu verdanken, sie, die Welt, wäre „nichts“, rein gar nichts, ohne die Deutschen. Und weil wir - die Deutschen, eben mehrere Ellenlängen besser sind als jenes Pack welches uns nur ausnutzen will, deshalb dürfen wir uns auch etwas „mehr“ herausnehmen, im Umgang mit unseren Nachbarn und sogar mit den Verbündeten, da sie ständig versuchen uns zu übervölkern.“ „Aber die meisten Juden sind doch genauso wie wir,“ warf ich ein, „wenn man es auf das rein Äußere beschränkt,“ sagte ich mit einem Stück von Sarkasmus, „warum geht man also derartig hart mit ihnen ins Gericht? Wäre es nicht besser die Kirche im Dorf zu lassen?“ „Mensch, Mensch, Mensch, das führt doch zu nichts,“ entgegnete mir Rösser heftigst erregt, „irgendwann hat man als Deutscher die Schnauze voll, darum war und ist es richtig, dass Hitler die Juden, die Zigeuner, die Kommunisten, die viel zu vielen Parteien, die Polen und all die anderen, die gerne alles in Anspruch nahmen, aber ungern etwas abgeben, dass er die alle rausgeschmissen hat. Der wahre Deutsche verträgt nun mal keine Demokratie und keine Ausländer.“

      Rösser, war und blieb, unbeeindruckt, als ich ihm nochmals zu verstehen gab, dass ich das gesamte Verhalten gegen die Juden als zu übertrieben empfinde, und meine Argumente schlossen hierbei den Kriegsdienst der Juden im ersten Weltkrieg, voll und ganz, mit ein. „Die sind doch genauso für Kaiser und Vaterland gestorben, ich meine, so wie all die anderen die für das Deutsche Reich gekämpft haben?“ Sagte ich so ruhig wie es mir möglich war. Aber, der verbitterte und boshafte Ludwig Rösser, wie übrigens auch Doktor Feldermann, der im Verlauf des Gesprächs zu uns gestoßen war, sie waren zu Judenhassern und zu einseitigen, unbelehrbaren, extrem fanatischen „Führer und Parteigetreuen“ geworden, sie waren blind vor Zorneswut auf etwas, was mir im tiefsten Innern als lächerlich und schwachsinnig vorkam je mehr ich darüber nachdachte. Ich muss in diesem Zusammenhang sagen, dass ich immer schon vermutete, dass Ivonne Feldermann eine Jüdin war, denn sie passte durch ihr Aussehen genau in das Schema, welches in der deutschen Öffentlichkeit propagiert wurde. Nur ihrem Ehemann schien das noch nicht aufgefallen zu sein. Aber, ob nun Jüdin hin oder her, vor mir hatte sie nichts zu befürchten, denn Melissa war ebenfalls Halbjüdin gewesen, und dadurch auch kein schlechterer Mensch als andere. Ja, und es war alles, außerdem, doch sehr undurchsichtig, wenn man es auf die Familie Feldermann bezog. Die Frage war nämlich: Verdeckte er mit ihr, also durch seine Ehe mit ihr, seine anderen Neigungen, oder versteckte sie sich, recht geschickt, hinter seiner Parteizugehörigkeit? Um nicht im KZ zu landen, denn, dass Juden abtransportiert wurden, diese Tatsache war nicht mehr wegzuleugnen, sie war un-ü-ber-seh-bar geworden. Demzufolge kursierten über die verschwundenen Juden die abenteuerlichsten Gerüchte, zum Beispiel: Man würde sie so ganz langsam nach Madagaskar schaffen... einen nach dem anderen, oder, man würde aus ihrem Blut, welches sich von dem Blut eines Ariers deutlich unterscheidet, Lakritze machen, lautete eine andere Vermutung aus irgendwelchen Kneipen. Richtig nachgefragt aber hatte niemand, die Angst schnürte einem fast den gesamten Atem ab, auch mir, trotz meiner Parteizugehörigkeit, wenn man daran dachte – „selbst“ eines nachts von der Gestapo aus dem Schlaf gerissen zu werden, um dann für immer und ewig zu verschwinden, in einem KZ, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Doch trotz all dieser unangenehmen Dinge die sich tagtäglich ereigneten, aller Vermutungen sowie Erkenntnisse und Offenbarungen – von so manchem, verlief der Rest des Jahres harmonisch, ich hatte auch keine Lust mehr, mir zu viele Gedanken zu machen, das hing auch mit dem Haus in England und mit diesem ominösen Schlüssel samt Gravur zusammen, den mir meine Mutter so sehr ans Herz gelegt hatte.

      Kurz nach dem Österreich im Frühjahr 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, fuhr ich nach London, ich fuhr zu der angegebenen Adresse, welche klein aber deutlich auf dem Schlüssel zu lesen war, und ich war angenehm überrascht wie schön das Haus war, wie freundlich die Umgebung mich willkommen hieß. Das war fast so ein Gefühl wie im Jahre 1920, als ich nach Nienstedten heimkehrte, nach vielen Jahren der Emigration in den Vereinigten Staaten und Carina mich, mit offenen Herzen, in die Arme schloss. Hier und heute stand ich allerdings alleine vor einem Haus, welches in einer ruhigen Seitenstraße lag, umgeben von Bäumen gegenüber einer wirklich wunderschönen, geometrischen Parkanlage, die zweifellos einem Lord oder einem Grafen gehören musste. In der Seitenstraße befanden sich noch weitere Häuser sowie Geschäfte - alle im Victorianischen Baustil gehalten, schlicht und praktisch, so war mein erster Eindruck. Ich nahm also meinen Schlüssel, der immer noch darauf wartete, von mir endlich ins richtige Schloss gesteckt zu werden und ging die vier Stufen zum Eingang hinauf, tja, und auf dem Namensschild stand, mein, mir wohlbekannter amerikanischer Name: Marc Hyatt! „Mutter hat also mal wieder an alles gedacht,“ sagte ich zu mir selber, und ich wollte gerade aufschließen, da kam der Milchmann vorgefahren und stellte ein paar, mit Morgen Tau überzogene, Milchflaschen neben den Eingang meines Nachbarhauses. Mich hatte er noch nicht so richtig wahr genommen, ich war ernsthaft gespannt wie er auf mich reagieren würde, wenn er überhaupt reagieren würde, schließlich war der Mann Engländer; Engländer brauchen im allgemeinen Umgang mit den Menschen nicht unbedingt zu reagieren, dennoch war es für mich von größter Wichtigkeit, dass der Milchmann nicht „überreagieren“ würde. Nachdem er also die leeren Flaschen in seinem Wagen verstaut hatte, kam er seelenruhig auf mich zu, er fragte mich auf englisch ob ich der neue Besitzer des Hauses sei, ich sagte ihm, ebenfalls auf englisch, dass ich zwar der neue Besitzer bin, aber, ich sei sehr viel auf Reisen und deshalb nur selten in London, deshalb sehen wir uns heute wohl auch zum ersten Mal. Er habe in den letzten Jahren gelegentlich eine größere Familie hier gesehen, und auch mit dem- oder mit der- einen, ein paar Worte gewechselt, sagte er zu mir, und nach seiner Beschreibung waren es, ohne dass er es wusste: meine Mutter, meine Schwester Melanie, die Ehemänner und die Kinder. Dass dieses so war, wie es war, war mir natürlich nicht unbekannt, schließlich reiste mein, mir vertrauter, amerikanischer Familienzweig, mindestens einmal im Jahr, kreuz und quer durch Europa. Und die Familie besaß, dank meiner umsichtigen Mutter, und trotz düsterster Vorahnungen ihrerseits, mindestens zwei, wenn nicht sogar drei, zum Teil, feste Wohnsitze - im alten Europa, aber ich wollte den Milchmann nicht mit der Wahrheit langweilen, beziehungsweise überfordern. Ja, und dann kamen wir, allmählich und unweigerlich sowie ohne langes Gefasel, auf das allmorgendliche Milchbeliefern zu sprechen, dass man sich aus England kaum wegdenken kann, so sehr gehört es zu dem Land und zu dessen Menschen; der eifrige Milchmann (Dane - mit Namen) sah in mir einen neuen Kunden - verständlicherweise, aber ich ließ mir lediglich seine Adresse geben, für eine spätere, eventuelle, regelmäßige Belieferung seiner Milch, was er durchaus akzeptierte. „Sie sind Amerikaner?“ Hatte er mir zum Abschluss noch gesagt, bevor er sich in seinen Wagen setzte. „Das habe ich gleich an ihrem Akzent erkannt. Ich kenne die Amerikaner, sehr gut sogar,“ fügte er lobend hinzu, bevor er seinen Motor startete und davonbrauste. Und ich schloss nun endlich die Tür auf.

      Erwartungsvoll trat ich ein, aber ich war enttäuscht und blieb abrupt stehen, zu spartanisch, zu leer und zu kalt, zu ungemütlich und zu leblos, starrten mich eine Handvoll Möbel, ein paar alte Bilder, eine kleine Küche und eine Katze an, die offensichtlich durch eines der Kellerfenster ins Haus gekommen war. „Schade,“ sagte ich zu der schwarzweißen Katze, „der Milchmann ist gerade weg, da hättest du früher auftauchen müssen, dann hätten wir zusammen etwas getrunken, du eine Untertasse voll Milch, und ich ein Glas Scotch – ohne Milch.“

      Da die Katze mich anscheinend