Galina Hendus

Beziehungen


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für ein Jahr beurlaubt worden war, damit er medizinische Rehabilitation in Anspruch nehmen konnte. Nach Ablauf dieser Zeit sollte er ärztlich untersucht werden und seine Offiziersstelle wieder antreten, falls die Ärzte dies bewilligten. Obwohl Irina Pawlowna schon über siebzig war, besaß sie immer noch einen agilen Verstand und rechnete sofort die möglichen Varianten einer Bekanntschaft zwischen Leyla und Alexander durch. Ob sie einander gefallen würden, war augenblicklich weniger wichtig, die Hauptsache war, ihnen die Möglichkeit zu geben, einander kennenzulernen, und dann – wer wusste, was daraus werden konnte? Einerseits bestand eine Chance – auch wenn sie minimal war –, die Enkelin vor einer unglücklichen Ehe mit Aslan zu retten. Andererseits konnte der krankgewordene Enkel ihrer Freundin seine Gesundheit in dem heilenden Klima des Kaukasus kräftigen. Irina Pawlownas Mann, Wachtang Georgiewitsch, war vor zwei Jahren verstorben, sodass sie in dem großen Haus mit Garten nun alleine war. Platz gab es mehr als genug, daher lud sie ihre Bekannte nicht bloß für eine kurze Zeit ein, sondern für so lange, wie sie bleiben wollte.

      Die alte Dame handelte sehr vorsichtig und hielt für alle Fälle ein Argument für ihren Schwiegersohn parat. Sie wusste zu gut, mit welcher außerordentlichen Achtung alten Menschen im Kaukasus begegnet wurde, und zweifelte keine Sekunde, dass Ibrahim nichts dagegen einwenden würde, dass die fünfundsiebzig Jahre alte Polina den Besuch in Begleitung ihres Enkels abstattete.

      Zwei Monate lang rätselte Irina Pawlowna, während sie auf eine Antwort aus Petersburg wartete, wie man dort ihr großzügiges, wenn auch etwas ungewöhnliches Angebot aufnehmen würde. Sie ging jeden Tag mit pochendem Herzen zum Briefkasten, den sie stets mit der Hoffnung öffnete, dort den ersehnten Briefumschlag zu entdecken. Als sie endlich den Brief erhielt und las, dass ihre Einladung mit großer Dankbarkeit angenommen wurde, dachte sie erleichtert: „Jetzt wird alles gut. Leylas Schönheit wird keinen jungen Mann gleichgültig lassen. Ein verwundeter Marineoffizier ist auf jeden Fall besser als ein alter Witwer mit drei Kindern. Und wenn die beiden zueinanderfinden, kann ich in Ruhe sterben.“

      Großmutter Irina hatte Recht: Die jungen Leute sahen sich ein einziges Mal und waren sofort in Liebe zueinander entflammt. Ihre Gefühle waren so offensichtlich, dass Leylas Vater schweren Herzens Aslan absagen musste: Das Glück der einzigen Tochter war ihm wichtiger als alte Bräuche.

      Zur Hochzeit luden Leyla und Alexander viele Gäste ein. Das Fest war üppig und fröhlich. Für die Flitterwochen mieteten ihnen die Eltern ein Ferienhaus am Kaspischen Meer. In das Meer waren die Jungvermählten genauso stark verliebt wie ineinander. Im Familienrat wurde entschieden, dass das junge Paar erst einmal bei Irina Pawlowna wohnen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Leyla ihre Ausbildung abgeschlossen und konnte überall Arbeit finden – Buchhalter waren gefragt. Ihrem jungen Ehemann blieben noch neun Monate bis zur ärztlichen Untersuchung, und alle hofften, dass sie es ihm ermöglichen würde, in den geliebten Beruf zurückzukehren.

      Das Szenario eines glücklichen Lebens, das Irina Pawlowna mit höchster Sorgfalt ausgearbeitet hatte, bekam jedoch schon zu Anfang einen Riss. Nicht einmal in einem Albtraum hätte die alte Frau sich vorstellen können, dass das Glück des Enkels zur Todesursache seiner Großmutter werden könnte.

      An einem Abend plauderten die alten Freundinnen wie gewöhnlich ein Weilchen, wünschten einander eine gute Nacht und gingen jede in ihr Schlafzimmer. Am nächsten Morgen wunderte sich Irina Pawlowna darüber, dass Polina nicht zur gewohnten Zeit zum Frühstück erschien, klopfte an ihrer Tür und betrat das Zimmer.

      „Polina, du schläfst heute aber wirklich lange“, wollte die Gastgeberin ihre schlafende Freundin wecken. „Steh auf, sonst werden die Plinsen kalt. Ich habe sie extra für dich gebacken.“

      Da Irina Pawlowna keine Antwort erhielt, ging sie zu dem Bett, das direkt am Fenster stand, und legte ihre Hand auf die Schulter der schlafenden Polina, um sie wachzurütteln. Sie fuhr jedoch sofort schaudernd zurück: Ihre Hand berührte die Eiseskälte des Todes. Polina Viktorowna war im Schlaf gestorben und nahm die Bilder des glücklichen Lächelns ihres Enkels mit in die Ewigkeit.

      Die Familie beriet sich und beschloss, die traurige Nachricht den Jungvermählten vorläufig nicht mitzuteilen, um ihre Flitterwochen nicht zu unterbrechen. Der Leichnam der verstorbenen Polina Viktorowna wurde nach Petersburg transportiert, wo sie im Familiengrab neben ihrem Mann beigesetzt wurde.

      „Wie konnte das passieren? Warum hast du nicht gewartet, bis ich zurückgekommen bin? Warum bist du gegangen, ohne dass wir uns verabschieden konnten?“

      Alexander war unglücklich, dass er seine geliebte Oma nicht noch einmal sehen konnte, aber er wagte es nicht, der neuen Verwandtschaft vorzuwerfen, dass er über ihren Tod nicht sofort unterrichtet worden war.

      Drei Wochen nach der Hochzeitsreise bekam Leyla einen Arbeitsplatz als Archivarin im Stadtarchiv, und einen weiteren Monat später teilte sie ihrem Mann mit, dass sie ein Kind erwarte. Als Alexander erfuhr, dass er bald Vater sein würde, empfand er eine grenzenlose Freude. Leylas Schwangerschaft erlaubte es, die Diagnose, die ihm die Ärzte vor einem halben Jahr gestellt hatten, in Zweifel zu ziehen: Damals hatten alle Seeleute auf seinem U-Boot bei einem Unfall mehr oder weniger starke Uranstrahlungen abbekommen. Die Ärzte hatten Alexander informiert, dass dies Unfruchtbarkeit verursache und andere Folgen haben könne, die vorläufig nicht abzuschätzen seien, und so ließ ihn die Nachricht über seine baldige Vaterschaft hoffen, dass man bei ihm womöglich eine Fehldiagnose gestellt hatte. Zwar hatte er schon einige Male kurz vor einer Ohnmacht gestanden, oft war ihm schwindelig geworden und sein Appetit war verschwunden, aber im Übrigen fühlte er sich ganz gut. Jetzt glaubte er fest, dass die Ärzte die schreckliche Diagnose in einigen Monaten nicht bestätigen würden. Er begann zu träumen: wie er seine Frau und das Kind nach Petersburg bringen würde, wo er selbst geboren und aufgewachsen war, und wie er wieder mit voller Brust die salzige Meeresluft einatmen könnte, die er im Kaukasus so vermisste.

      Der errechnete Geburtstermin fiel unbegreiflicherweise mit dem Termin seiner medizinischen Untersuchung zusammen. Alexander war hin- und hergerissen und wusste nicht, was er tun sollte. Den Termin für die Untersuchung absagen oder um einige Zeit verschieben, das konnte er beim besten Willen nicht. Er wollte aber auch nicht seine Frau allein lassen, gerade jetzt, wo das Kind jede Minute zur Welt kommen konnte.

      „Mach dir keine Sorgen“, redete Tamara ihm nach einem Blickwechsel mit ihrem Mann gut zu. Sie verstanden durchaus die Sorgen des Schwiegersohnes. „Leyla wird schon nichts passieren. Solange du nicht da bist, wird sie bei uns bleiben, so können wir alle beruhigt sein. Auch wenn das Kind ohne dich geboren werden sollte, ist es nicht schlimm, wir sind ja in der Nähe. Und nach deiner Rückkehr nimmst du Leyla und das Baby mit nach Hause.“

      „Wie wird es bloß mit dem Umzug nach Petersburg werden, wenn ich die Arbeitserlaubnis erhalte? Wie wird das Baby diese lange Reise vertragen? Und ob Leyla dort allein, ohne eure Hilfe, zurechtkommen wird?“ Die vielen Fragen, die Alexander stellte, zeugten von der Sorge eines Ehemannes um seine junge, unerfahrene Frau, aber auch von seiner Nervosität wegen der bevorstehenden Fahrt. Und je mehr Alexander über den Umzug nach Petersburg sprach, desto deutlicher konnte man aus seiner Stimme die Unsicherheit heraushören. „Mach dir keinen Kopf wegen des Umzugs, denk lieber an deine Gesundheit“, beruhigte Tamara den Schwiegersohn. „Lass dich untersuchen, und wenn alles in Ordnung ist, helfen Vater und ich bei dem Umzug. Ich kann auch ein paar Wochen bei euch bleiben, solange ich euch nicht im Wege stehe.“

      „Vielen Dank, Tamara. Ich mache mir so viele Sorgen …“ Alexander atmete erleichtert auf, als er begriff, dass Leyla nicht ohne Unterstützung bleiben würde. „Und die Untersuchung werde ich schon schaffen, glaubt es mir.“

      Zehn Tage später brachte ihn ein Zug mit Volldampf nach Petersburg, und zwei Tage danach gebar Leyla einen prächtigen schwarzhaarigen Jungen.

      Alexander erschien ohne Vorwarnung zurück bei Leylas Eltern. Die junge Mutter schaukelte gerade das Baby, als sie fühlte, dass hinter ihrem Rücken jemand das Zimmer betrat. Sie drehte sich um und sah ihren Mann. Nach einem kurzen Blick zu ihrem schlafenden Sohn fiel sie Alexander um den Hals, lehnte sich mit ihrem ganzen Körper an ihn, spürte seine Wärme und blieb so stehen.

      „Warum hast du kein Telegramm geschickt? Papa hätte dich abgeholt.“