Galina Hendus

Beziehungen


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Verzeih mir meine Offenheit, aber ein Mann in deinem Alter sieht ohne Kinder viel attraktiver aus als mit ihnen“, sagte ich ihm ganz ehrlich.

      „Vielleicht hast du gar nicht so Unrecht, ich habe schon selbst daran gedacht. Gerade deswegen suche ich nach einer Frau aus Osteuropa, vielmehr aus Russland – eure Frauen sind nicht so pragmatisch und berechnend wie unsere. Es kann ja sein, dass sich hier für mich etwas ergibt.“

      „Dann bist du nicht nur in Russland, weil du eine Kollegin vertrittst, sondern aufgrund privater Angelegenheiten?“, fragte ich.

      „Nein, ich bin eher geschäftlich hier. Ausnahmsweise bekam ich das Angebot, ein russisches Projekt zu vollenden. Obwohl, tief im Herzen hoffe ich, auch mein eigenes Leben zu regeln. Die Geschäfte habe ich fast erledigt und bleibe noch zwei Wochen privat in Sankt-Petersburg. Vielleicht treffen wir uns?“, wandte er sich an mich und lächelte fragend.

      „Ich fahre schon am Sonntagabend zurück, und meine Zeit ist leider auch schon verplant.“

      „Sehr schade ...“

      Der Zug wurde immer langsamer. Auf einmal öffnete sich die Abteiltür und die Zugbegleiterin kündigte an:

      „Petersburg, wir sind angekommen.“

      Michael sprang von der obersten Bank und half mir, den Mantel anzulegen. Plötzlich lächelte er, küsste mir die Hand und sagte:

      „Weißt du, Lena, ich bin dir sehr dankbar für die heutige Nacht. Du bist der erste Mensch, dem ich mein Leben ausführlich erzählt habe. Es ist, als hätte ich in dieser Nacht all diese Jahre neu erlebt. Ich hatte das seltsame Gefühl, um mehrere Jahre zurückgekehrt, nicht verheiratet zu sein und eine erwachsene Tochter zu haben. Danke für dieses Gefühl, das dank dir in mir erwacht ist. Jetzt bin ich mir ganz sicher: Ich werde alles schaffen und eine Frau treffen, die mich richtig versteht. Ich danke dir!“

      Ich stand ein wenig verzweifelt da und wusste nicht, was ich antworten sollte. Dann raffte ich mich endlich auf, holte eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihm rüber.

      „Michael, ich danke dir, dass du so ein offenes Herz hast. Wenn du möchtest, schreib mir eine E-Mail, ich will dir gerne antworten. Alles Gute!“

      Ich ergriff mein Gepäck und begab mich schnell, ohne mich umzudrehen, zum Ausgang, um den Abschied von dem eigentlich unbekannten Mann nicht in die Länge zu ziehen. Auf dem Bahnsteig, winkend mit weißem flauschigem Handschuh, eilte mir schon Tamara entgegen. Als ich auf sie zukam, hielt ich es nicht aus und drehte mich noch einmal um. Mein zufälliger Reisegefährte stand am Fenster des Abteils und lächelte mir charmant nach.

      „Adieu, mein nächtlicher Begleiter!“

      Münsterkäse

      Nachdem ich gemeinsam mit meiner Frau Alina von unserer dreiwöchigen Algarve-Reise zurückgekehrt war, stürzte ich mich gespannt in den heimischen Alltag. Im Urlaub versuche ich stets, auf Handy und Laptop zu verzichten. Ein Sommerurlaub zum Abschalten ist bei uns ein wichtiger Brauch. Nun aber hatte der Alltag, der für kurze Zeit von mir gewichen war, mich wieder.

      Ich prüfte mein Mailkonto auf neue Nachrichten und beantwortete einige private E-Mails. Dabei stieß ich unverhofft auf die Mitteilung meines alten Freundes Karlheinz Krisch, kurz Krischa genannt. Wir waren alte Schulfreunde und hatten einst gemeinsam ein Internat in Fulda besucht. Viele Jahre später trafen wir uns in Berlin wieder – er als Künstler und Meisterschüler an der Hochschule für bildende Künste, ich als Student der Ingenieurswissenschaften an der Technischen Universität.

      Nach den Studienjahren trennten sich unsere Wege. Aus guten Freunden wurden alte Bekannte. Von Zeit zu Zeit nahmen wir telefonischen Kontakt auf, um Erinnerungen und besondere Ereignisse auszutauschen, doch diese Kontakte beschränkten sich bald auf die obligatorischen Weihnachtsgrüße und Geburtstagswünsche. Dann aber war ein technisches Wunder in unser Leben getreten: das Internet. Wir begannen, uns auf elektronischem Wege Briefe zu senden, und daraus entwickelte sich schnell eine Art nostalgisches Begehren nach besonderen Werten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit, dem wir im gemeinsamen Kontakt nachgingen.

      Krischa begann, Schritt für Schritt unsere alten Klassenkameraden zu reaktivieren. Im Gegensatz zu mir, der ich bis heute als selbstständiger Berater im medizinischen Bereich tätig bin, war er bereits auf seinen wohlverdienten Ruhestand eingestellt. Da sein Gehirn jedoch nach Arbeit verlangte, widmete er sich ganz dem Projekt, unsere ehemaligen Mitschüler wiederzufinden. Diese waren über das ganze Land verstreut, doch mithilfe des Internets nahm die Wiederbelebung unserer alten Klasse zunehmend Gestalt an. Dabei übernahm Krischa die Rolle eines wichtigen Koordinators.

      Krischas E-Mail ließ mich an unsere Jugend zurückdenken, die viel zu schnell vergangen war. Er stellte fest, dass das Ende unserer Schulzeit nunmehr 50 Jahre zurücklag. Eine Ewigkeit! Würden wir die Mitschüler wiedererkennen? Waren sie noch alle an Bord, gesund und stabil? Bewegt von Gedanken wie diesen hatte Krischa beschlossen, ein Wiedersehen mit den alten Kameraden an alter Wirkungsstätte zu arrangieren, in der Barockstadt Fulda.

      Krischas Nachricht führte meine Erinnerungen zurück in meine Kindheit, in die dunkle Zeit während des Krieges und die mir immer bewusster werdenden Erlebnisse und Ereignisse der Nachkriegsjahre. Besonders beschäftigte mich eine Erinnerung, die mir wahrscheinlich für den Rest meines Lebens im Gedächtnis bleiben würde. Es ging um einen außergewöhnlichen Vorfall, der … – doch halt, eins nach dem anderen.

      Für meine Generation, die zu den Kriegsjahrgängen zählt, gab es in der Zeit der Besatzung durch die Alliierten viele Herausforderungen hinsichtlich einer adäquaten Ausbildung. Schulen, Lehrwerkstätten, Universitäten und andere Ausbildungsplätze waren zum Teil zerstört oder belegt, da Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten in ihnen untergebracht waren. Zudem fehlten Lehrer und Fachpersonal, die in Gefangenschaft, als vermisst gemeldet oder im Krieg umgekommen waren. Wir Kinder selbst sahen kein Problem darin, aber natürlich unsere Eltern, die sich wünschten, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung für ihr zukünftiges Leben erhielten. Angebote der Kirchen beider Konfessionen konnten die katastrophale Lage etwas abmildern. So kam es, dass meine Eltern sich für ein katholisches Internat in der Bischofsstadt Fulda entschieden und mich dort Anfang der fünfziger Jahre anmeldeten.

      Für mich als Zehnjährigem, der gewohnt war, das freie Leben auf dem Hof seiner Großeltern verbringen zu dürfen, stieß diese Verbannung auf großes Unverständnis. Die Entscheidung meiner Eltern glich einer harten Strafe, die ich nicht verdiente und erst recht nicht verstand. Wir waren eine Großfamilie und lebten in harmonischer Gemeinschaft – und plötzlich war da dieses katholische Internat mit seinen strengen Regeln und seiner straffen Organisation. Zu Beginn kam mir die Zeit in dieser Einrichtung wie ein bloßer Freiheitsentzug vor. Das Gefühl der Unterdrückung machte mir Angst. Doch langsam fand ich mich mit den neuen Verhältnissen ab. Mir wurde bewusst, dass es meine Eltern gewesen waren, die mich vertrauensvoll in die Abhängigkeit fremder Menschen gegeben hatten. Aus dieser Erkenntnis heraus machte ich, soweit es ging, aus der Not eine Tugend. Ich freundete mich mit gleichaltrigen und gleichgesinnten Mitschülern an, um das Leben unter der strengen Reglementierung und den einseitigen Vorstellungen der Vorgesetzten besser ertragen zu können.

      Im Internat glich fast jeder Tag dem anderen. Morgens wecken, aufstehen, waschen, frühstücken. Nach dem kargen Frühstück gingen wir gemeinsam mit unserem Präfekten und Mentor, Herrn Fink, einem Laienbruder aus Oberfranken, in die nahegelegene Kapelle zur Morgenandacht, um uns gewissenhaft auf den Tag vorzubereiten.

      Zu dieser Zeit war ich elf Jahre alt. Meine Haltung zur Freiheit und die Sehnsucht nach meinem Zuhause waren noch immer sehr ausgeprägt, sodass ich mich dem Zwang innerlich zwar widersetzte, dies nach Außen aber nicht zeigte. Ich glaube, dem einen oder anderen Mitschüler ging es damals ähnlich. Weder meine Klassenkameraden noch ich waren in der Lage, gegen diesen Zwang zu protestieren. Wir ahnten, dass ein Aufbegehren Strafen nach sich ziehen würde, die bei groben Verstößen auch unseren Eltern schriftlich mitgeteilt wurden. Beides, die direkten internen Strafen durch die Patres wie auch der Verweis aus dem Internat, waren Maßnahmen, die erhebliche Auswirkungen