viel zu harte Bestrafung – und das nur wegen eines feuchten Käses. Aber obwohl wir eine für uns Kinder so unverhältnismäßige Konsequenz erfuhren, verriet mich keiner meiner Freunde. Jeder wusste, dass ich das Stück verhassten Münsterkäses in die Kapelle gebracht hatte, um einen stillen Protest gegen die strengen Gesetze des katholischen Internats zum Ausdruck zu bringen ...
Ich saß noch lange vor dem Computer. Nach einigen Überlegungen öffnete ich eine neue Nachricht und begann zu schreiben: „Lieber Karlheinz, vielen Dank für deine Einladung. Ich werde zum Jubiläum kommen und direkt morgen früh ein Hotelzimmer reservieren. Auf ein fröhliches und baldiges Wiedersehen! Dein Helmut.“
Einen Moment saß ich still da, dann stand ich von meinem Arbeitsplatz auf. Ob auch meine ehemaligen Klassenkameraden sich noch an die Episode mit dem von uns allen so gehassten Münsterkäse erinnerten? Ich würde sie danach fragen. Unbedingt!
Leyla
Leyla Ismail war in einer kleinen Stadt im Kaukasusvorland geboren und hielt ihre Heimat für die schönste Gegend der Welt. Seit ihrer Kindheit umgaben sie die melodischen Wellen einer lebendigen Mehrsprachigkeit, die das Wesen ihrer Familie ausmachte. Leyla sprach drei verschiedene Sprachen, was für sie nichts Besonderes war. Die junge Frau liebte ihre Familie von ganzem Herzen, in der sich die Traditionen verschiedener Völker dicht miteinander verflochten hatten und festgewachsen waren.
Ihre Mutter Tamara war in einer russisch-orthodoxen Familie in Georgien geboren, ihr Vater Ibrahim stammte aus dem muslimischen Kabardinien. Die Eltern ihrer Großmutter mütterlicherseits waren während der Revolution aus Petersburg vor dem kommunistischen Terror geflohen. Oma Irina selbst war damals erst zwölf Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre geliebte Stadt ungern verlassen, obwohl sie schon damals verstanden hatte, dass es gefährlich gewesen wäre, dort zu bleiben. So hatte sich die russische Familie im Kaukasus niedergelassen, hatte sich eingelebt und Wurzeln geschlagen.
Georgisches, russisches und kabardinisches Blut hatte sich in Leyla bizarr vermischt und verlieh ihrem Äußeren einen besonderen Liebreiz. Sie hatte die für diese Gegend ungewöhnliche rosig-samtene Haut ihrer russischen Oma und die strahlend blauen Augen ihrer Mutter. Vom georgischen Großvater hatte sie die schlanke Figur und den Gang eines stolzen Menschen geerbt. Schwarzes, glänzendes Haar und die klaren Konturen ihrer vollen Lippen verwiesen auf den kabardinischen Vater. Leyla war sich ihrer nicht alltäglichen Schönheit nicht bewusst, sie hielt sich für eine gewöhnliche junge Frau. Irgendwo anders, in einer großen Stadt, hätte sie mit ihrem Aussehen eine Schauspielerin oder ein Model werden können. Hier aber, in dem kleinen Provinznest mit seinen patriarchalen Gesetzen, bot sich ihr nichts Besonderes an – wobei Leyla sich danach auch keineswegs sehnte. Sie verließ ihren Geburtsort selten, denn sie verspürte keine große Reiselust. Es interessierte sie nicht, was außerhalb ihrer geliebten kaukasischen Heimat geschah, die für sie die beste und schönste Gegend in der ganzen Welt war. Die größte Reise ihres Lebens hatte sie als Teenager unternommen, als sie mit den Eltern ans Kaspische Meer gefahren war. Beim Blick auf die grenzenlose Weite hatte sich das dreizehnjährige Mädchen für sein ganzes Leben in das Meer verliebt. Seitdem war Leyla noch tiefer davon überzeugt, dass alles, was sie umgab, das Beste in der Welt war.
Junge Frauen werden im Kaukasus früh verheiratet. Dieses ungeschriebene Gesetz stellt dort niemand infrage – und es wird streng eingehalten. Als Leyla fünfzehn Jahre alt war, sprachen ihre Eltern immer öfter miteinander über die Zukunft ihrer einzigen Tochter. Der Vater bestand darauf, dass es nun Zeit war, sich nach einem passenden Bräutigam umzuschauen. Die Mutter war gegen eine frühe Heirat. Die Gespräche verliefen gewöhnlich im Nichts: Jedes Elternteil blieb bei seiner Meinung, die Entscheidung wurde auf spätere Zeiten verschoben. Das Mädchen selbst mischte sich in solche Gespräche nicht ein, sie wusste ja, dass sie zu jung war, ihre eigene Meinung äußern zu dürfen.
Während ihre Eltern über die Zukunft der Tochter diskutierten, schloss Leyla nicht nur die acht Jahre dauernde Schulzeit ab, sondern begann auch mit der Ausbildung an der Fachschule für Leichtindustrie, um vor der Heirat einen Beruf zu erlernen. Nur ein Jahr trennte die siebzehnjährige Schönheit vor ihrem Abschluss als Buchhalterin, da bereitete das Leben Leyla eine Überraschung.
Als sie eines Abends nach Hause kam, fand sie in der Küche ihre weinende Mutter vor.
„Mama, was ist los, warum weinst du?“ Die junge Frau nahm ihre Mutter in die Arme und versuchte, sie so zu beruhigen. „Gab es wieder Streit mit Papa – wegen mir?“
„Ja, Liebes, wegen dir“, nickte die Mutter. „Der Vater hat einen reichen Bräutigam für dich gefunden und möchte dich verheiraten.“
„Wer ist es denn?“, fragte Leyla neugierig. Sie kannte die Traditionen ihrer Heimat, deshalb kam ihr nicht in den Sinn, sich gegen die frühe Ehe zu sträuben. „Woher kommt er, wo arbeitet er?“
„Ach, mein Täubchen, frag mich nicht!“ Die Mutter drückte das Mädchen an ihre Brust. „Du kennst ihn nicht, er ist nicht von hier. Er heißt Aslan und ist ein entfernter Verwandter eines Cousins deines Vaters. Ibrahim hat überall geprahlt, was für ein kluges und schönes Töchterchen er hat. Und kaum hat er dein Foto gesehen, sagt dieser Aslan, dass er dich heiraten will. Seine Frau ist vor zwei Monaten gestorben und er sucht eine Frau, die sie ersetzen kann.“
„Wie alt ist er denn, wenn er schon Witwer ist?“ Besorgnis war aus der Stimme des Mädchens herauszuhören.
„Das ist es gerade, er ist schon jenseits der Vierzig und hat drei Kinder. Das wird kein Leben für dich sein, sondern eine einzige Qual!“ Die Mutter begann wieder zu weinen.
„Ich werde mit Vater sprechen und ihn bitten, die Verlobung um wenigstens ein halbes Jahr zu verschieben. Das wird er mir nicht ausschlagen, wenn er mich schon mit so einem Greis verheiraten will!“
Leylas Stimme klang entschlossen und ihre Mutter begriff, dass die Tochter die Entscheidung des Vaters nicht ohne Weiteres hinnehmen würde. Neben den klaren Konturen ihrer schönen Lippen und dem wunderbaren tiefschwarzen Haar hatte Leyla den resoluten Charakter ihres Vaters geerbt. Und wie Tamara in diesem Augenblick schon ahnte, gelang es ihrer Tochter schließlich, den Vater zu überreden, die Entscheidung über ihre Heirat um ein halbes Jahr zu verschieben. Der künftige Bräutigam, ein noch recht jung und gutaussehender heißblütiger Mann, war keinesfalls damit einverstanden, so lange warten zu müssen, aber da Leyla darauf beharrte, musste er letztendlich nachgeben. Leylas Vater Ibrahim war über fünfzig und seine Tochter war nicht nur ein spätes, sondern sein einziges Kind, das er über alles liebte. Traditionen hin oder her, auch Leylas Meinung musste berücksichtigt werden. Wenn Ibrahim bloß gewusst hätte, wohin diese Verzögerung führen würde!
Als Großmutter Irina von dem Vorhaben des Schwiegersohnes hörte, ihre Enkelin mit einem Witwer, der drei Kinder hatte, zu verheiraten, entschloss sie sich, in den Lauf der Ereignisse einzugreifen. Direkt konnte sie jedoch nicht handeln, da ihre Meinung kaum etwas ändern konnte, daher plante sie einen raffinierten Zug. Ohne jemandem etwas zu sagen, schrieb sie an ihre alte Freundin Polina Viktorowna, mit der sie gemeinsam die Kindheit verbracht und das Gymnasium in Petersburg besucht hatte. Seit Irina Pawlownas Familie in den Kaukasus gezogen war, waren viele Jahre vergangen. Die Freundinnen, die sich von Kindheitstagen an kannten, verloren einander für lange Zeit aus den Augen. Erst vor dem Krieg fanden sie sich wieder und standen seitdem im Kontakt. Als sie noch jünger waren, besuchten sie sich häufig gegenseitig, doch in den letzten zehn Jahren standen sie lediglich im Briefwechsel. Jetzt aber lud Irina Pawlowna, ihrem Plan folgend, die Freundin ein, sie zu besuchen, und bat sie, nicht alleine, sondern mit ihrem Enkel zu kommen.
Polina Viktorownas Enkel hieß Alexander und war achtundzwanzig Jahre alt. Er hatte eine Marineschule in Petersburg absolviert und diente auf einem U-Boot. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er zwölf Jahre alt war. Seitdem lebte er bei seiner Oma. Irina Pawlowna wusste nicht genau, worin konkret Alexanders Arbeit bestand, und aufgrund ihres Alters war sie nicht besonders darauf erpicht, sich mit etwas zu beschäftigen, von dem sie keine Ahnung hatte. Der Enkel ihrer Freundin war