Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir


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auf den Monitor, der über Cassie an der Decke hing. Nichts. Kein Herzschlag. Das Schlimmste war geschehen: Ihr Baby, ihre Hoffnung, ihr Glück, war gestorben.

      Vom Bildschirm des Ultraschallgeräts schaute Nick in Cassies Gesicht, und er sah dort die Trauer und die Verzweiflung, die er selbst empfand. Er war so aufgeregt gewesen ... hatte sich darauf gefreut, sein Kind zu sehen ... den Herzschlag zu hören ... das erste Schmetterlingsflattern zu spüren ... Und jetzt?

      Von Männern wurde erwartet, dass sie ihre Gefühle im Griff hatten. Dass sie stark waren, dass sie ihren Frauen Halt gaben, wenn sie zusammenbrachen. Aber in diesem Augenblick wollte er nur noch heulen.

      Cassie und er weinten stundenlang, hielten sich aneinander fest, ohne dem anderen Halt geben zu können, und trauerten um ihr Kind. In einem Erinnerungsalbum voller Fotos, Briefe und Ultraschallbilder gedachten sie ihres kleinen Schmetterlings, der nie das Fliegen lernte.

      Mommys trauerten anders als Daddys. Die Wochen nach dem Tod ihres Kindes waren sehr schwierig für Cassie, unbeschreiblich schmerzhaft, und sie zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Als Jolies Zustand nach einer Infektion wieder einmal lebensbedrohlich wurde und Cassies Gefühle über ihr zusammenschlugen, trennte sie sich von ihm. Für mehr als eine SMS fehlte ihr die Kraft. Fünf Zeilen, das »Ich liebe dich« am Anfang und das »Ich werde immer an dich denken« am Ende nicht mitgerechnet. In diesem Augenblick hatte Nick alles verloren, sein Kind, auf das er sich gefreut hatte, die kleine Jolie, die er »ganz doll liebhatte«, und die Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte. Es hatte ihm das Herz gebrochen.

      Karen wurde jetzt eingeblendet. Dr Karen Mayfield stand in Jolies Krankenzimmer und kommentierte die gescheiterte Knochenmarktransplantation nach Coops tragischem Tod. Am unteren Bildrand wurde jetzt Cassies Website help-jolie.com eingeblendet, und Karen bat die Zuschauer, sich als Spender typisieren und registrieren zu lassen, um Jolies Leben zu retten. Im Hintergrund erkannte Nick den Infusionsständer mit dem Playmobil-Fallschirmspringer.

      Jetzt kam Jolie ins Bild. Sie saß auf Cassies Schoß und schmiegte sich an sie. In der Hand hielt sie die kleine Figur, die sie an ihren Vater erinnerte. Aus dem Off kam der Kommentar, professionell gesprochen, mitfühlend, aber reißerisch:

      »Der letzte Wunsch eines sterbenden Kindes: Ich will meinen Daddy wiederhaben! Der kleinen Jolie Lacey bleibt nicht mehr viel Zeit. Ihre letzten Tage verbringt sie im UCSF Medical Center in San Francisco. Ihr letzter Wunsch: Sie will ihren Daddy umarmen, während sie stirbt. Aber wo ist ...«

      Nick fühlte sich, als bliebe sein Herz stehen. Der Schmerz wurde einfach unerträglich.

       Jolie stirbt.

      Er hatte noch die Kraft, den Fernseher abzuschalten, bevor er in heiße Tränen ausbrach.

      3

      Elf Stunden achtundvierzig Minuten.

      Mit beiden Händen am Lenkrad ihres roten Ford Ranger Wildtrak ließ Cassie die verspannten Schultern kreisen. Sie war die ganze Nacht gefahren. Müde blinzelte sie in das Licht des neuen Tages. Ein rascher Blick zur Uhr auf ihrem Tablet, das in der Halterung neben dem Lenkrad klemmte: Es war kurz vor acht.

      Vor Stunden hatte sie mit Nick geskypt. Das erste Mal kurz vor Mitternacht. Sie war gerade am Mount Shasta vorbeigerauscht, dessen schneebedeckter Gipfel im Mondlicht durch das Gebüsch am Rand des Cascade Wonderland Highways schimmerte. Nick hatte angerufen, um sich zu entschuldigen. Er hatte falsch reagiert, ja klar. Aber die Nachricht, dass Jolie starb, übers Fernsehen zu erfahren ... Dass ihr Kind, ihr kleiner Schmetterling – er konnte nicht weitersprechen, so aufgewühlt war er immer noch ... Und jetzt auch noch Alex. Dass Jolie ihn kennenlernen wollte, okay, er war ihr Daddy. Dass sie zum Mount St Helens fuhr, um Alex von ihrer gemeinsamen Tochter zu erzählen, auch okay ... aber ...

      Aber.

      Das ist es, dachte Cassie. Nick hat Angst, panische Angst. Dass Jolie stirbt, dass Alex zurückkommt, dass ich mich in meinen Ex verlieben könnte, dass wir ... Ach, verdammt!

      Nein, Nick hatte sich während der Nacht nicht wieder eingekriegt. Auch morgens um drei, Cassie war schon nicht mehr in Kalifornien, sondern in Oregon, war er so aufgewühlt wie gestern Abend, als er sich mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern gegen die Kommode lehnte, ihr zusah, wie sie einen Stapel Klamotten in ihre Tasche stopfte, und leise, fast resigniert fragte: »Wie lange willst du denn wegbleiben?«

      Cassie wusste nicht, was sie antworten sollte: Drei Tage, fünf, sieben? Bis sie so weit war, Alex von seiner Tochter zu erzählen? Bis er bereit war, nach San Francisco zurückzukehren? »Ich werde Jolie nicht sterben lassen, ohne ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen.«

      Eine Weile hatte Nick ihr bei ihrer einsamen Fahrt über Skype Gesellschaft geleistet. Kurz vor halb vier hatten sie im matten Licht ihres Tablets ein virtuelles Candle Light Dinner genossen, mit der Sushibox auf dem Beifahrersitz und leiser Musik. Und irgendwie war es schön. Na ja, nicht so romantisch wie es ein Abend auf ihrem Hausboot gewesen wäre, aber doch berührend.

      Wie er versucht hatte, sie zu trösten! Von Jolie Abschied zu nehmen, war so schwer gewesen. Cassie wusste nicht, ob sie ihrer Kleinen ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen konnte: »Daddy und du, Mommy, könnt ihr euch nicht wieder liebhaben?« Jolie hatte geschluchzt und geschrien, und sie hatte sich an ihr festgeklammert, als Cassie sie verließ, um nach Hause zu fahren und zu packen. »Ich komme doch bald zurück, Süße. Und Nick wird jeden Tag bei dir sein.« Ihr verzweifeltes Weinen übertönte das Schnaufen der Beatmungsgeräte und das Piepsen der Infusionspumpen in Cassies Gedanken, und es verfolgte sie bis zum Aufzug.

      Die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern, dachte sie. Werde ich meine Kleine lebend wiedersehen?

      Sie zog die verkrampften Schultern hoch und spreitzte die Finger am Lenkrad. Zwei Tage, vielleicht drei. Dann muss ich zurück. Mit oder ohne Alex.

      Ich darf Jolie nicht länger allein lassen.

      Ich muss für sie da sein, bis sie ...

      Ein grünes Highway-Schild huschte vorbei.

      Über die Schulter blickte sie zurück. War das schon die Abfahrt von der Interstate 5? Cassie warf einen Blick auf das Tablet. Das Navi sagte: Exit 49. Abbiegen. Jetzt.

      Sie schaltete den Tempomat aus und stieg auf die Bremse. Da war schon die Ausfahrt. Als sie auf die rechte Spur wechselte, um die Interstate zu verlassen, merkte sie, dass etwas mit ihr geschah.

      Sie hatte keine Ahnung, wie sie das, was sie jetzt empfand, beschreiben sollte. Sie entspannte sich, und ihr Kopf wurde frei. Sie war endlich bereit, sich die Atempause zu gönnen, die Karen ihr schon vor Wochen nahegelegt hatte. »Cassie, ich weiß, du hast das Gefühl Jolie im Stich zu lassen, wenn du mit Nick mal für ein paar Tage verschwindest, um zu entspannen. Wenn ihr ins Kino geht, statt an Jolies Bett zu sitzen und ihr Geschichten vorzulesen. Wenn ihr euch einen romantischen Abend macht, statt die Nacht in der Klinik zu verbringen. Aber du kannst nicht ständig auf Hochtouren laufen, ohne irgendwann mit einem Burnout zusammenzubrechen. Tu deiner Kleinen das nicht an, Cassie!«

      Durchatmen. Entspannen. Loslassen. Nachdenken.

      Mein Leben hat an Tiefe gewonnen, dachte sie. Diese Erkenntnis, die mir gestern Abend kam, als ich auf die Interstate gefahren bin – darüber will ich in Ruhe nachdenken.

      Reden.

      Mit Nick. Mit Alex?

      Über Jolie, ja, aber auch über mich. Ja, über mich. Karen hat recht, ich habe auch Bedürfnisse. Wünsche. Sehnsüchte. Und ich darf sie haben!

      Im Augenblick kann ich nicht den Finger drauflegen und sagen: Das will ich, und so will ich es. Dazu stehe ich unter zu großer Anspannung, schon seit Monaten, und meine Angst ist viel zu groß.

      Ich will wahrgenommen werden. Das ist es. Ich will beachtet werden. Nicht als Mutter eines sterbenden Kindes,