Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir


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Hände verkrampften sich ums Lenkrad, und sie wusste nicht, lag es an dem Ehrfurcht gebietenden Vulkan, an der schieren Naturgewalt, die hier alles Leben vernichtet hatte, oder war sie einfach nur angespannt, weil sie gleich Alex gegenüberstehen würde. Sie wusste nicht, was sie eigentlich empfand. Sie war nervös, ja klar – Alex und sie waren seit sechs Jahren getrennt. Überreizt, weil Karen gesagt hatte, dass Jolie sterben würde und Cassie nichts mehr für sie tun könnte. Ungeduldig, ja aufgeregt, weil so viel von diesem Treffen mit Alex abhing. Nein, alles: Das Glück ihrer Tochter. Das war alles, was jetzt noch zählte.

      Immer steiler wand sich der Highway zwischen den Abhängen hindurch und erreichte schließlich eine Hochebene. Dort war Cassie wieder auf Augenhöhe mit dem Gipfel des Vulkans. Die Wolke schwebte noch über dem Krater.

      Was für ein Bild: Der Mount St Helens überragte einen Haufen umgestürzter, zerborstener, zersplitterter Bäume, zwischen den toten Stämmen wucherte das frische Grün.

      Jetzt war’s nicht mehr weit.

      Nur noch wenige gepresste Atemzüge und pochende Herzschläge.

      Dass der Parkplatz am Johnston Ridge Observatory so groß und voll wäre, hätte sie nicht gedacht. Und dass hier so viele Baumstümpfe mit Wurzeln standen. Auf einem hockte inmitten der faserigen Bruchstelle ein Squirrel und guckte sie mit großen Augen an, als sie ihren Wildtrak einparkte und den Motor ausmachte. Die Touristenhorden, die mit umgehängten Fotoapparaten und Handys in der Hand zur Aussichtsplattform des Visitor Centers strömten, störten das putzige Streifenhörnchen nicht.

      Okay, wo steckte Alex?

      Ein Bus hielt, die Türen öffneten sich, und eine Gruppe Japaner quoll hervor.

      Cassie wollte ihnen schon zum Observatorium folgen, als sie ihn plötzlich sah. Er lud irgendwelche Geräte auf die Ladefläche seines Geländewagens, der neben dem Weg zur Aussichtsplattform parkte. Zwei Kollegen vom US Geological Survey, wie er in Bergstiefeln, Cargohosen und Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln, halfen ihm dabei. Zwei andere, mit dem Aufnäher des US Forest Service auf den kurzen Ärmeln, lehnten mit gekreuzten Beinen am Wagen und sahen ihnen dabei zu: Forest Rangers. Die Kumpels von Smokey Bear.

      Scheint so, als hätte Alex hier oben das Equipment abgeholt, um irgendwo in der Restricted Area seismische Messungen durchzuführen.

      Langsam ging Cassie auf die Männer zu.

      Smokey Bear’s Kumpels erzählten sich gerade die neuesten Park Ranger Witze, die sie gegoogelt hatten, johlten und schlugen sich auf die Schenkel.

      Alex’ ausgelassenes Lachen, diese unbeschwerte Lebensfreude ...

      Überwältigt von ihren Gefühlen, blieb sie einige Schritte entfernt stehen.

      Der Fahrer eines Geländewagens hupte sie genervt an, ließ den Motor aufheulen und preschte mit knirschenden Reifen an ihr vorbei.

      Einer der Forest Rangers bemerkte sie, stieß sich lässig vom Wagen ab, richtete sich auf und ruckelte schneidig seinen Gürtel höher. Mit einem Hut sähe er aus wie sein Kumpel Mr Bear. »Ma’am? Kann ich Ihnen helfen?«

      Die anderen beruhigten sich kichernd und schnaufend und sahen sie an. Alex wuchtete die Klappe der Ladefläche hoch und drehte sich zu ihr um.

      Keiner von ihnen rührte sich. Keiner machte den ersten Schritt auf den anderen zu. Keiner streckte die Hand aus, um den anderen zu berühren.

      Der Schmerz, den sie in sich spürte, heiß am Herzen, trocken in der Kehle, war Trauer. Cassie trauerte um das, was sie verloren hatte.

      Und auch Alex brachte keinen Ton heraus, kein Wort, kein Seufzen, nicht mal ein entnervtes Stöhnen, dass sie ohne Vorwarnung hier auftauchte und ihn überrumpelte, einfach so.

      Ja, okay, sie hätte ihn anrufen sollen. Sie hätte ihm sagen sollen, dass sie kommen würde, um mit ihm zu reden. Aber gestern Abend war sie sprachlos vor Entsetzen, und während der langen Fahrt hatte sie gehofft, ihr würden die richtigen Worte einfallen. Und jetzt? Alles was sie sagen konnte, klang irgendwie unpassend und ziemlich albern.

      Ihr Herz klopfte wie verrückt. »Hallo, Alex.«

      Er schüttelte langsam den Kopf. »Hallo, Cassie. Wie schön, dich zu sehen.«

      Sie lächelte, und Tränen verschleierten ihren Blick. »Dich auch«, quälte sie heraus. »Ich freue mich wirklich.«

      Er nickte, und sie spürte, dass er so verwirrt war wie sie ... so aufgewühlt ... so traurig.

      Was ist da noch zwischen uns?, fragte sie sich. Herzklopfen? Ja, und wie! Gefühle? Auch, und jede Menge schöner Erinnerungen. Herzlichkeit? Ja, sehr viel. Liebe? Leidenschaft?

      Sie gingen aufeinander zu, umarmten sich und küssten sich.

      Na ja, nicht auf die Lippen. Sondern nur verlegen auf die Wangen. Und trotzdem, sie musste den Impuls unterdrücken, ihm dabei übers Haar zu streichen, so wie früher.

      Cassie konnte seinen vertrauten Duft riechen. Ein sehr männlicher Duft von warmer, sonnengebräunter Haut, ein Hauch Schweiß, den sein kühlendes, erfrischendes After Shave fast überdeckte.

      An Alex’ Schulter hörte sie das Tuscheln seiner Freunde: »Ist das seine Ex?« – »Dr Cassie Lacey.« – »Ich stelle sie mir gerade im sexy Tauchanzug vor. Ob ich sie um ein Date bitte?« – »Frag doch Alex nach ihrer Telefonnummer.« – »Besser nicht. Sieh dir die beiden an ... Da besteht akute Waldbrandgefahr.«

      Schließlich löste Alex sich von ihr und sah sie an. »Alles in Ordnung?«

      Cassie schaute zu Boden, wischte eine Träne fort und versuchte, sich wieder zu beruhigen.

      Hey, ich bin todmüde – ich bin seit achtundzwanzig Stunden auf den Beinen, ich habe erfahren, dass meine Tochter stirbt, dass mein Mann sich scheiden lassen will, dass mein Freund mit der Situation nicht klar kommt, und ich bin die Nacht durchgefahren, um meiner Kleinen ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Nein, Alex, nichts ist in Ordnung! Und wie es aussieht, wird es das auch nie wieder sein!

      Alex sah ihr an, wie entsetzlich sie sich fühlte. »Du hast meinen Brief bekommen.«

      »Gestern.«

      »Und heute bist du hier.«

      »Ich wollte dich sehen.« Sie zog die Scheidungspapiere aus ihrem Rucksack. »Können wir reden?«

      Alex zögerte, warf einen Blick auf die Uhr und schaute sie wieder an. »Hast du unterschrieben?«

      »Was glaubst du?«

      Er bemerkte den Ring an ihrem Finger und berührte seinen unwillkürlich mit dem Daumen. »Nein.«

      Cassie nickte.

      »Und wieso nicht?«

      »Können wir reden?«, wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte dabei.

      Verunsicherung. Das war es, was sie empfand. Sie wusste nicht genau, was sie wollte. Alex mit nach San Francisco nehmen, Jolies letzten Wunsch erfüllen – und dann? Die erneute Trennung? Die Scheidung?

      Alex hob die Augenbrauen, sah ihr in die Augen, bemerkte etwas darin, das er nicht kannte und das er erforschen wollte, weil es ihn betroffen machte, und nickte langsam. »Okay.«

      »Jetzt?«

      »Cassie ...« Er atmete tief durch. »Ich kann nicht. Ich muss zum Toutle River, um Messungen durchzuführen.«

      »Ich wollte dich wiedersehen, Alex. Aber es geht um mehr. Ich muss dir was sagen ...«

      »Aha, und was?«

      Sie wich seinem Blick aus. »Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll. Ich dachte, es wäre ...«

      Alex wartete, dass sie weitersprach, aber Cassie zuckte nur mit den Schultern, schon wieder den Tränen nah.

      »Du könntest mich begleiten und mir helfen, die schweren Geräteteile über die Geröllhalden ins Tal des Toutle River zu schleppen.«