Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir


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Ball?

      Durch das Gebüsch tastete sie sich näher heran. Ja, tatsächlich. Und da war noch mehr. Ein Baumhaus mit Kletterseil und Leiter. Eine Rutsche. Eine Schaukel.

      Und da lag ein Kinderfahrrad im hohen Gras.

      Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.

      Alex hatte eine Familie.

      Wie gelähmt starrte sie das Fahrrad an.

      Er hatte Kinder.

      Und Jolie? Und wenn er seine andere Tochter, die kranke, die bald sterben würde, gar nicht kennenlernen wollte?

      Cassie zuckte schmerzhaft zusammen, als sie das Garagentor rattern hörte. Er war noch hier!

      Sie stürmte los, den Sandweg entlang zur Straße.

      Die Garage war geschlossen. In der Ferne verklang Motorengeräusch.

      Sie hastete zur Straßenecke und sah ihn an ihrem Wildtrak vorbeifahren. Das kalifornische Nummernschild hatte er nicht gesehen. Wieso auch? Er kannte den neuen Wagen ja nicht. Er bog ab und war verschwunden.

      Und jetzt?

      Ihm folgen? Bis zum Mount St Helens? Und dann?

      Alex hatte Kinder.

      Bleib ruhig, Cassie. Überleg, was du jetzt tun willst.

      Sie ging zurück zu ihrem Auto und stieg ein. Dann nahm sie das Tablet aus der Halterung und tippte Skype auf. Nick hatte keine Nachricht hinterlassen. Sie würde ihn nachher anrufen, um ihm zu sagen, dass sie angekommen war.

      Jetzt klickte sie Google auf und suchte die Website des Silver Lake Resorts. Es gab ein Waterfront Motel und einige Cabins. Okay, da stand eine Telefonnummer. Sie rief im Resort an und buchte ein Zimmer. Für zwei? Nein, für sie allein. Wann sie anreisen wollte? Jetzt.

      Sieben Minuten später lud Cassie ihr Gepäck aus dem Wildtrak und schleppte es auf ihr Zimmer mit Seeblick. Den Mount St Helens konnte sie immer noch nicht sehen. Sie warf ihre Sachen aufs Bett, stellte Jolies Wunschbox auf den Nachttisch, stopfte die Scheidungspapiere in ihren ledernen Rucksack, zog sich die Wanderstiefel an und machte sich auf die Suche nach Alex.

      Das Johnston Ridge Observatory am Mount St Helens kannte das Navi. Fünfundvierzig Meilen, dreiundfünfzig Minuten, und Alex hatte eine halbe Stunde Vorsprung. Vielleicht erwischte sie ihn dort. Auf einer Website des US Geological Survey gab es ein Bild von ihm am Observatorium, im Hintergrund der Gipfel des Mount St Helens.

      Am Toutle River entlang fuhr sie nach Osten. Im Hoffstadt Bluffs Visitor Center versuchte sie ein Frühstück zu bekommen, aber das Restaurant war noch geschlossen. Die Karte las sich jedoch toll: Salat, Fire Mountain Burger, Lava Cake. Vielleicht würde sie hier zu Abend essen, bevor sie ins Resort zurückfuhr. Und sich den Stapel Videos ansah, den sie im Gift Shop kaufte. Grand Canyon, Monument Valley, Canyonlands, Arches. An diesen Orten, über die Alex in seinen Forschungsabenteuern berichtete, waren sie gemeinsam gewesen. So viele Erinnerungen ... so viele Gefühle ...

      Sie wollte schon gehen, da entdeckte sie im Regal noch einen Bildband, auch von ihm. Alex in der Antarktis, Alex in Afrika, Alex in Australien, am Ayers Rock. Hey, das Foto, auf dem er grinsend das Kängurubaby im Arm hielt, hatte sie gemacht. Und das nächste auch. Und da stand es auch – Fotos: Dr Cassie Lacey.

      Die Fotos besaß sie gar nicht. Alex hatte die Foto-CD mitgenommen, als er sie verließ. Okay, neunundzwanzig fünfundneunzig, und sie gehörten wieder ihr. Cassie schleppte zwei Tüten mit Büchern und Videos von ihrem Ex zurück zum Auto und schwang sich hinters Steuer.

      Das im Schlamm und im Geröll des Ausbruchs versunkene Tal des Toutle River war beeindruckend, aber der Vulkan war immer noch nicht zu sehen. Sie fuhr weiter, Meile um Meile. Dann folgte sie einer weiten Kurve, und da war er plötzlich. Der Berg im Morgenlicht – blau und rosa schimmerte der Dunst, der ihn verhüllte. Ein Motiv wie aus einem Bildband.

      Sie war so ergriffen ... so überwältigt von dem unerwarteten Anblick des majestätischen Vulkans, der bei der Eruption seinen Gipfel verloren hatte, dass sie auf dem Tablet Cat Stevens andrehte und mit brennenden Augen den Text von Morning has broken mitsang.

      Während sie weiterfuhr, musste sie an die Verwüstung denken, die der Vulkan hier vor zweiunddreißig Jahren angerichtet hatte. Die umgestürzten Bäume in der Blowdown Zone, ohne Zweige oder Blätter, die graue Asche, die alles zudeckte – doch aus dieser Asche entstand das neue Leben.

      Die Rückkehr des Lebens – dieser tröstliche Gedanke schenkte ihr Hoffnung, und die Tränen rannen ihr übers Gesicht, so aufgewühlt war sie.

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      10.08.2012, 08:14 Hayley, Oakland

      Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was einem Menschen in seinem Leben passieren kann. Ich weiß wovon ich rede. Nachdem bei meiner kleinen Jeannie Leukämie festgestellt wurde, kämpfte sie drei Wochen lang um ihr Leben. Vor wenigen Monaten hat sie den Kampf verloren. Sie war erst zwei Jahre alt. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie uns so früh verlassen hat. Cassie, ich wünsche dir und Nick sehr viel Kraft für die kommende Zeit. In diesen traurigen und hoffnungslosen Tagen müsst ihr euch euren Lebensmut bewahren. Hayley

      10.08.2012, 09:11 Joy, San Francisco

      Liebe Cassie! Ich habe gestern Abend die Nachrichten auf CBS SF gesehen. Das Foto von Jolie lässt mich einfach nicht mehr los. Ich habe selbst vor vier Jahren meine kleine Tochter verloren und ich kenne den Schmerz und die Verzweiflung, die du jetzt durchlebst. Es war dieselbe Art von Leukämie, die Jolie hat. Kim war so stark. Alle haben gestaunt, wie sie die harten Therapien weggesteckt hat. Sie hat immer gelacht. Dann kam die Katastrophe. Ich mag gar nicht darüber reden. Darmversagen. Infektion. Einblutungen. Nierenversagen. Nur wenige Tage später war mein kleines Mädchen tot. Sie ist nur vier Jahre alt geworden. Ich konnte nichts tun außer ihr Geschichten vorzulesen und mit ihr Kinderlieder zu singen. Ich trage meine Süße immer noch in meinem Herzen. Ich fühle mit dir, Cassie. Und ich umarme dich ganz fest. Joy

      10.08.2012, 10:01 Jayden, San Jose

      Libe Cassi ! Ich habe das von Joli beim abend essen in den nachrichten gesehn. Und ich muste ganz doll weinen . Ich hab mein taschengelt gespart weil ich will mir einen drizeradrops kaufen oder wie der heist . Das ist ein dienosaurier weist du . In meiner spardose hab ich 18 dollar und 34 cent . Die will ich Joli geben damit sie wieder gesunt wird . Mommy hat gesagt sie tut das geld zu euch . Und ich guck dabei zu wenn sie das macht weil ich weis nicht wie das geht . Bitte sag Joli viele grüsse von Jayden

      Der Spirit Lake Highway wand sich jetzt an bewaldeten Berghängen oberhalb des Toutle River entlang, und hinter jeder weiten Kurve tauchte der Vulkan vor Cassie auf, schöner und größer als zuvor.

      Der Himmel über den Bergen der Coldwater Ridge vor ihr war jetzt leuchtend blau, die Sonne blendete sie. Gab es überhaupt eine Wolke am Himmel? Ja, doch, genau über dem Krater des Mount St Helens schwebte eine. Irre, oder?

      In weiten Serpentinen schlängelte sich der Highway zum Coldwater Ridge Visitor Center, und die Perspektive auf den Vulkan änderte sich von Minute zu Minute, von Meile zu Meile. Ein Berg der idyllischen Cascade Range mit blühenden Wiesen und einem blauen Bergsee. Ein Vulkan mit geborstenem Gipfel, der aus einer grauen Bimssteinebene ragte, eine Wolke über dem weit offenen Krater. Ein spektakulärer Gipfel vor der Kulisse des im Morgenlicht glitzernden Coldwater Lake und den bewaldeten Höhenzügen.

      Auf dem Parkplatz vor dem Visitor Center oberhalb des Sees lag einer der umgestürzten Baumstämme, von der Hitze des Ausbruchs vom 18. Mai 1980 verbogen und silbern verblichen. Cassie berührte das schimmernde Holz, das zu Stein geworden zu sein schien. Begann hier die Blowdown Zone?

      Im Visitor Center fragte sie nach Alex. Er sollte im Johnston Ridge Observatory sein. Am Ende der Straße. Also weiter.

      Je näher sie dem Vulkan kam, desto spärlicher wurde die Vegetation. Zu beiden Seiten des Highway gab es keine alten Bäume mehr, nur junge, grüne Wildlinge, hieß das so?