Lara Myles, Barbara Goldstein

In Gedanken bei dir


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ganz leicht, oder? Ist es aber nicht.

      Ich will herausfinden, was Alex will. Okay, ja, er will die Scheidung. Aber wovon träumt er?

      Na gut, eines nach dem anderen.

      Durchatmen.

      Cassie fuhr die Scheibe runter, hielt ihr Gesicht in den kühlen Wind und atmete tief ein, um die Müdigkeit zu vertreiben.

      Sie fühlte sich jetzt irgendwie anders, und sie spürte dem verstörenden Gefühl nach. Sie war eine andere als die, die gestern Abend von der Klinik in San Francisco aufgebrochen war. Und sie war auch nicht mehr die, die in Sausalito ihre Sachen in den Pickup lud, weil sie nur mal schnell zu ihrem Ex wollte, um mit ihm zu reden. Sie war unterwegs zu ... ja klar, zu Alex ... aber auch zu sich selbst. Sie fing noch mal von vorne an.

      Die Ausfahrt endete an einer Kreuzung. Das Navi sagte: rechts abbiegen. Eine Tankstelle, eine Pizzeria, ein Subway, ein Burger King. Sollte sie anhalten, tanken und frühstücken? Ein Kaffee wäre jetzt toll. Bacon & Eggs oder Waffeln mit Ahornsirup. Sie hatte wirklich Hunger. Aber bis zu Alex’ Haus war es noch ein Stück zu fahren, und sie wollte ihn nicht verpassen. Der Sprit reichte noch bis zum Mount St Helens, also weiter.

      Auf dem Spirit Lake Highway fuhr sie nach Osten, in den Morgennebel hinein. Die entgegenkommenden Fahrzeuge hatten Licht an.

      Silver Lake 6 miles.

      Der Nebel wurde dichter, und Cassie konnte die Bäume und Schilder am Straßenrand nur noch schemenhaft erkennen.

      Sie reckte den Arm vor und tippte auf dem Tablet in der Halterung Skype auf. Der sanfte Klingelton spielte endlos. Aber Jolies Gesicht erschien nicht auf dem Bildschirm.

      Was war passiert?

      Cassies Finger zitterten so, dass sie die Tasten auf ihrem Smartphone kaum drücken konnte. Nach dem sechsten Klingeln meldete sich das UCSF Medical Center.

      »Dr Cassie Lacey. Ich würde gern mit meiner Tochter sprechen. Jolie.«

      Ein Klicken, dann Funkstille.

      »Hallo?«, flüsterte Cassie in das Schweigen hinein.

      »Cassie?«, meldete sich Dr Mayfield. »Wo bist du?«

      »Karen, hi! Ich bin schon auf dem Weg zu Alex. In einer halben Stunde bin ich bei ihm. Ich wollte vorher kurz mit Jolie reden. Aber sie ist nicht in ihrem Zimmer. Ich muss wissen, wie es ihr geht.«

      Dr Mayfield atmete langsam ein und aus, und es klang wie ein tiefer Seufzer aus dem Herzen.

      Cassie spannte sofort wieder alle Muskeln an, und eine Hitzewelle lief durch ihren Körper. Ihr Herz raste. Jolie starb.

      »Cassie, deine Kleine ist im Labor und wird gerade gepikst. Soll ich ihr was ausrichten?«

      »Sag ihr, ich bin auf dem Weg zu ihrem Daddy. Sag ihr, sie muss durchhalten, bis Alex und ich wieder bei ihr sind.«

      »Ich sag’s ihr«, versprach Karen mit ruhiger Stimme.

      »Sie muss leben, Karen. Sag ihr, sie soll auf mich warten ... auf Mommy und Daddy.«

      »Cassie ...« Dr Mayfield seufzte. »Okay, mach ich.«

      Cassies Herz klopfte so schnell, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. »Danke, Karen. Ich komme so schnell wie möglich zurück.« Mit zitternden Fingern beendete sie das Gespräch.

      Die Sonne brach jetzt durch den dichten Dunst, dann hüllten die wabernden Schwaden sie wieder ein. Außer dem Highway vor ihr und den Bäumen konnte sie nichts erkennen. Hätte es nach einigen Meilen nicht aufgeklart, wäre sie am Silver Lake Visitor Center vorbeigefahren.

      Noch eine Viertelmeile, sagte das Schild, dann verließ Cassie die Straße und parkte ihren Wildtrak vor dem wuchtigen Gebäude. Für fünf Dollar konnte sie die Ausstellung besichtigen und einen sechzehnminütigen Film über den Vulkanausbruch ansehen, aber sie hatte keine Zeit. Am Verkaufsstand neben dem Visitor Center holte sie sich einen Coffee-to-go. Dort fragte sie auch nach Indian Island. Fünf Meilen über den Spirit Lake Highway, rechts ab, kein Schild. Thanks and bye.

      Vom Visitor Center führte ein Trail, ein hölzerner Boardwalk, zu den Silver Lake Wetlands. Am Ende des Stegs sollte man einen tollen Blick auf den Mount St Helens haben, der sich zwischen den blühenden Seerosen im Wasser des Silver Lake spiegelte. Das würde sie sich wirklich gern ansehen, aber sie musste zu Alex.

      Cassie trank ihren Kaffee aus und stieg wieder in den Pickup. Fünf Meilen. Sieben Minuten.

      Sie fuhr am Silver Lake Resort vorbei. Eine Straße nach rechts. War’s hier schon? Kein Schild. Sie schaute auf den Meilenstand. Nein, noch weiter. Ein kleines Waldstück. Dahinter musste der Silver Lake liegen. Eine einsame Mailbox am Straßenrand, ein weißes Haus. Der Nebel löste sich auf, der Himmel riss auf, die Sonne blendete sie. Eine Straße, die nach rechts in die Einsamkeit führte. Nein, noch nicht. Dann kam der Silver Lake in Sicht. Den Vulkan musste sie von hier aus sehen können. Aber der Horizont war noch zu dunstig. Der Highway führte am See entlang, das Wasser blitzte immer wieder zwischen den Bäumen durch. Dann kamen die Wetlands – Seerosen blühten auf den Tümpeln, die das Blau des Himmels reflektierten. Beinahe wäre sie an der Straße vorbeigefahren, so sehr genoss sie den Anblick der bezaubernden Landschaft.

      Hey, eine Straße nach rechts, und kein Schild. Hier musste es sein.

      Ein kleines Waldgebiet tauchte vor ihr auf. Dann kam eine Ansiedlung in Sicht, und ein Schild: Indian Island. So hieß der Ort, wo Alex wohnte. Hier war sie richtig. Die zweite Straße rechts, also gut. Immer am See entlang, das stimmte auch. Lake Road, und da war der Silver Lake. Jetzt langsam. Sie hielt nach Hausnummern Ausschau, aber es gab keine.

      Das Haus da vorn, das mit dem Bootssteg unter den hohen Bäumen, das könnte es sein!

      Cassie fuhr ein paar Schritte weiter um die Ecke, dann parkte sie am Straßenrand und schaltete den Motor aus.

      Durchatmen.

      Sie lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze, schloss die Augen und lauschte auf das Knacken des abkühlenden Motors.

      Entspannen.

      Sie stellte sich vor, ihre verspannten Muskeln und Gelenke würden knacken, und das half. Die Schmerzen ließen nach.

      Du schaffst das, Cassie! Was sind schon sechs Jahre? Ihr habt euch mal geliebt. Ihr wart mal glücklich. Ihr seid verheiratet.

      Ja. Noch.

      Cassie spürte, wie ihr die Tränen kamen, wie gestern, als sie den Umschlag aufriss.

      Verdammt!

      Mit beiden Händen rieb sie sich übers Gesicht, als ihr Tablet den Skype-Klingelton spielte.

      Nein, Nick, nicht jetzt!

      Sie ließ es klingeln, öffnete die Tür und stieg aus. Als sie die Tür schloss, sah sie durch die Scheibe Jolies rote Lackschachtel auf dem Rücksitz liegen. Ihre Wunschbox. Ihr ungelebtes Leben.

      Über die Straße ging sie hinüber zu Alex’ Haus. Das Garagentor war geschlossen, und sie konnte nicht erkennen, ob er da war.

      Sie könnte klopfen ... Sie könnte vor der Tür stehen ... Sie könnte sagen: Hi Alex. Lange nicht gesehen. Wie geht’s dir so?

      Nein.

      Am Haus vorbei führte ein Sandweg unter den Bäumen hindurch zum Bootssteg am See. Ein Motorboot lag dort vertäut. Über dem Wasser kreiste ein Adler, eine Entenfamilie paddelte um den Steg, und Cassie konnte Frösche hören. Und Zikaden.

      Sie wandte sich zum Haus um. Eine Veranda mit weiß gestrichenen Schaukelstühlen, wie schön. An der Brüstung lehnte eine Angelausrüstung. Die Treppe in den Garten war völlig überwuchert – Wildnis pur. Das Gras im Garten wuchs kniehoch. Unter den schattigen Bäumen stand in einem Meer von Pusteblumen ein altes Autowrack. Ein Pickup aus den Fifties, ohne Lack, ganz rot vor Rost. Ein echtes Schmuckstück. Ja klar, hier wohnte Alex.

      Dann sah Cassie den Ball neben den geplatzten